Funken im Tanklager

Petrologen stoßen unter dem Kaspischen Meer auf Öl. Wer darf es fördern? Wer kontrolliert die Pipeline? Ein Fall von Ölfieber

Im Jahr 2000 stiessen Petrologen bei Bohrungen in Kaschagan vor der kasachischen Küste auf eine ungeheure Erdölblase mit über einer Milliarde Tonnen gesicherter Reserven. Weltweit der größte Fund seit Jahrzehnten, mehr Öl, als noch in der Nordsee vorhanden ist. Just zum Millenniumswechsel beflügelte das Kaspische Meer die Fantasie. Sollten die zu Erdöl umgeformten Planktonreste in 4000 Meter Tiefe zur globalen Energiequelle von morgen werden? Kaschagan war ja nicht die einzige große Lagerstätte, „Super Giant Field“ im Jargon der Petroindustrie, die für Euphorie sorgte. Im benachbarten Tengiz pumpen Fördertürme das schwarze Gold bereits seit Jahren aus einem vergleichbaren Reservoir. Damit wird Kasachstan zum bedeutendsten Ölexporteur am Kaspischen Meer. Doch auch die anderen muslimisch geprägten Anrainer, Aserbaidschan, Turkmenistan, das russische Dagestan und Iran, verfügen über ähnliche, zum Teil noch unausgelotete Vorkommen.

In den Regierungspalästen um das 400000 Quadratkilometer große Binnenmeer begann man zu rechnen: Durch verheißungsvolle Zahlen galt es, Investoren ins Land zu locken. Alsbald war von 100 Milliarden Barrel Erdöl im Kaspi-Raum die Rede, Washingtons Energieministerium sprach sogar von 200 Milliarden, drei Mal so viel, wie an Reserven in den Vereinigten Staaten existiert. Manager, Minister und Medienmacher sprachen vom „Golf des 21. Jahrhunderts“. Historisches Déjà-vu zum Persischen Golf, wo islamische Küstenstaaten über immense Petrolreichtümer verfügen. Das Kaspische Meer an der Schwelle Zentralasiens geriet als Ölteich der Zukunft in den Fokus. Auch Russland und das energiehungrige China strecken ihre Finger nach den kaspischen Kohlenwasserstoffen aus; dabei geht es ihnen vor allem um den Zugriff via Pipeline.

Doch welche Weltbedeutung hat das Erdöl am Kaspischen Meer wirklich? Bei genauerem Hinsehen trat Ernüchterung ein. „Als unumstritten gelten derzeit 35 Milliarden Barrel Öl“, sagt Hilmar Rempel von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe. Allerdings ist nur die Hälfte davon technisch abbaubar. Das Öl steckt kilometertief in der Erde, steht teilweise unter 1000 bar Druck und hat mindere Qualität. Ob es je effizient zu fördern ist, bleibt ungewiss. Hinzu kommt eine Besonderheit des Kaspischen Meeres: Es „atmet“. Der Wasserspiegel hebt und senkt sich aus tektonischen Gründen periodisch. In den neunziger Jahren ist er wieder um drei Meter gestiegen. Viele Förderanlagen, sagt Rempel, sind buchstäblich „abgesoffen“.

Der Ölrausch am Kaspischen Meer offenbart sich zusehends als Resultat schöngefärbter Zahlen. Einerseits profitieren die Regimes Kasachstans, Turkmenistans und Aserbaidschans vom Mengenmythos, weil er ausländisches Geld in ihre verarmten Wirtschaften zieht. Andererseits seien die übertriebenen Rechnungen um das Kaspi-Öl – laut Werner Zittel, der als Energieexperte den Bundestag berät – „eine Propagandamaßnahme, um die Opec-Staaten nervös zu machen“. Wie eine Fachtagung der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung feststellte, könnten die Öl- und Gaslagerstätten des Kaspi-Raumes maximal fünf Prozent der Weltnachfrage decken. Die Reserven der Golfstaaten sind zehn Mal größer.

Dennoch: In der Europäischen Union, deren Nordseevorkommen zur Neige gehen, sollen Öl und Gas vom Kaspischen Meer mögliche Lücken füllen. Ein gigantischer Bedarf, den auch ein Vielfaches des Kaschagan-Fundes nicht decken könnte. Für den Westen insgesamt taugt der kaspische Vorrat also bestenfalls als „Ersatzkanister“. Doch das Kaspische Meer besitzt noch eine andere energiepolitische Bedeutung. Geographisch sitzt das Meer mitten in der Strategischen Ellipse: ein Terrain, das vom Persischen Golf über Kaukasien und Zentralasien bis an die sibirische Barentssee reicht. Die Strategische Ellipse ist die Brennstoffkammer der Erde. Fast drei Viertel aller Öl- und Gasdepots weltweit stecken hier im Boden. Wer die Versorgungsventile innerhalb dieser Ellipse kontrolliert, entscheidet über die Entwicklungschancen ganzer Nationen.

Die wachsende Militärpräsenz der USA in Georgien, Kirgisien und Usbekistan zeugt von einer entsprechenden Positionierung. Regionalstaaten und Großmächte versuchen im Zentrum der Ellipse einander in Schach zu halten und sich den Ressourcenzugang zu erschweren. Dies betrifft auch den Poker um die Pipelinerouten. Da das Kaspische Meer keine Anbindung an die Weltschifffahrtsrouten besitzt, ist der Transport per Röhre zwingend. Russland hat größtes Interesse daran, Rohöl aus Dagestan, Kasachstan und Aserbaidschan über das eigene Territorium zu lenken – und die Hand auf dem Hahn zu behalten. Das bewerkstelligt die „Nordroute“ mit ihren Zubringern aus Tengiz, Astrachan und Baku; sie endet am Schwarzmeerhafen Noworossisk. Die 1300-Kilometer-Strecke hat US-Vizepräsident Dick Cheney noch vor seinem Amtsantritt für den Ölmulti Chevron ausgehandelt, der durch das 20-Milliarden-Dollar-Joint-Venture Tengiz-Chevroil mit Kasachstans staatlicher Petrolgesellschaft liiert ist.


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mare No. 43

No. 43April / Mai 2004

Von Sam Row und Ralph Hinterkeuser

Der in Berlin lebende Autor Sam Row, Jahrgang 1957, erarbeitet derzeit eine filmische Dokumentation zu der Suche nach Erdöl und Erdgas und die folgenden politischen Auseinandersetzungen im Kaspischen Raum.

Ralph Hinterkeuser, geboren 1959, ist fasziniert von der „unwirklichen Szenerie“ der Erdölfelder. Drei Monate verbrachte er im vergangenen Jahr in Baku, um sie zu fotografieren.

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Vita Der in Berlin lebende Autor Sam Row, Jahrgang 1957, erarbeitet derzeit eine filmische Dokumentation zu der Suche nach Erdöl und Erdgas und die folgenden politischen Auseinandersetzungen im Kaspischen Raum.

Ralph Hinterkeuser, geboren 1959, ist fasziniert von der „unwirklichen Szenerie“ der Erdölfelder. Drei Monate verbrachte er im vergangenen Jahr in Baku, um sie zu fotografieren.
Person Von Sam Row und Ralph Hinterkeuser
Vita Der in Berlin lebende Autor Sam Row, Jahrgang 1957, erarbeitet derzeit eine filmische Dokumentation zu der Suche nach Erdöl und Erdgas und die folgenden politischen Auseinandersetzungen im Kaspischen Raum.

Ralph Hinterkeuser, geboren 1959, ist fasziniert von der „unwirklichen Szenerie“ der Erdölfelder. Drei Monate verbrachte er im vergangenen Jahr in Baku, um sie zu fotografieren.
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