Friede den Archen

The times they are a-changing… Die Hausbootkolonie in Sausalito war in Zeiten der Flower Power ein Hort der Hippies – heute ist es zunehmend ein hipper Hort des Establishments. Die Koexistenz ist aber so friedlich wie ehedem

Am frühen Morgen kriecht der Nebel über die Hügel wie ein verlorener Traum. Möwen rufen, Reiher picken im Schlamm, und zwischen zwei Stegen blinzelt ein Seelöwe in den ersten Strahl der kalifornischen Sonne, die alles wie von innen aufleuchten lassen wird.

Sausalito liegt in der Bay Area von San Francisco, am Nordende der Golden Gate Bridge. Einst ein Fischerdorf, ist es nun Ziel für Wochenendausflügler, die sich ein wenig nach einem Leben sehnen, in dem die Luft nach Meer und nicht nach Mikrowellenmenü riecht.

Doug Storms, ein drahtiger Mittfünfziger, hat sein Hausboot selbst zusammengezimmert. Es besteht aus einem halben Landungsboot der Navy, das er auf eine Barge gehievt und mit Pfeilern erhöht hat, um noch ein Untergeschoss zu bekommen. „Hab’s vom Ghetto zum Penthouse gebracht“, sagt er und führt durch die Zimmerchen, die so vollgestopft sind, dass man nicht umfallen kann.

Unten hat seine Freundin Heather ihr Nähstudio, oben ist die Küche. Kühlschrank, Waschmaschine, Möbel, Lampen und sonstiger Hausrat sind Fundstücke. Doug sammelt, was die Leute an Funktionstüchtigem wegwerfen. Alles ist Flickwerk, im Lauf der Jahre zusammengetragen; die beiden erinnern an Obdachlose, die in ihren Habseligkeiten stecken wie die Schnecke im Haus. „Kein rechter Winkel, nirgendwo, ein Albtraum“, sagt Doug, während er mit eingezogenem Kopf auf die Fenster deutet, die er eingebaut hat, um die Räume größer erscheinen zu lassen. „Ich mag keine Höhle“, meint er just in dem Moment, als man sagen wollte, hier fühle man sich bestimmt so wohl wie in einer solchen.

Doug ist Berufstaucher, erzählt von den Ankern, die er gehoben hat, dem Achtzylindermotor, der sein Boot fast zum Sinken gebracht hätte, und dem goldenen Ohrring, der ihm einmal mehr zeigte, dass es die Zufälle sind, die zählen im Leben. Er war mit leeren Taschen am Ufer entlang geschlendert und einer Frau begegnet, der das Erbstück der Großmutter ins Wasser gefallen war, und er war hineingesprungen und hinuntergetaucht und hatte blindlings in den Sand gegriffen, just an der Stelle, wo der Ring begraben lag. Er hatte nichts dafür gewollt, aber sie hatte ihm 150 Dollar zugesteckt. „Du musst nicht nach dem Glück rennen“, sagt Doug, „es rennt dir hinterher.“ Doug zahlt 500 Dollar im Monat für den Liegeplatz, doch im Winter vermietet er sein Hausboot für 1000 und geht nach Mexiko, wo er für einen Bungalow 100 zahlt.

 

 

Die Gates Co-op, in der er lebt, ist die Keimzelle der 245 Hausboote zählenden Kolonie am Waldo Point in Sausalito, der Überrest der wilden 1950er und 1960er Jahre, wo erst Beatniks und dann Hippies siedelten, weil hier das Leben fast so wenig kostete wie die Luft und die Liebe. Manche Hausboote sind kaum mehr als bessere Hütten, die Stege wacklig, die elektrischen und sanitären Installationen so wirr, wie manche Bewohner es geworden sind nach ihren Expeditionen in die künstlichen Paradiese. Der Tag beginnt mit einem Joint, und dass er nicht endet, dafür sorgt Ice oder Glass, wie Crystal Meth hier im Jargon heißt, die Droge, die erst die Zähne und dann das Hirn zerfrisst.

Schlendert man durch die Gates Co-op, kommt man sich vor wie in einem Gemälde von Hieronymus Bosch, in das sich eine Schar fröhlicher Kinder verirrt hat. Da feiert man eine Geburtstagsparty, auch wenn niemand Geburtstag hat, vertreibt nach Indianersitte böse Geister mit Rauchschwaden von Salbei und pflegt Kontakt zu Außerirdischen mit Geräten, deren Namen so rätselhaft sind wie die Funktionsweise. Jeder ist Künstler und keiner Kritiker, und das Lebensziel ist immer dort, wohin einen das Leben gerade treibt.

Doch die Tage der Gates Co-op sind gezählt. Der Ort soll aufgeräumt, die 40 Hausboote sollen zu neuen Liegeplätzen an die fünf Docks des Waldo Point Harbor verschoben und baulich auf den gesetzlichen Stand gebracht werden. Mittels Subventionen will die Gemeinde dafür sorgen, dass niemand wegziehen muss. Es wäre, wie wenn man einem Baum die Wurzeln kappen würde, meinen auch manche der Betuchten in ihren schwimmenden Palästen, die über eine Million Dollar kosten. Dass Prinz und Bettelknabe Nachbarn sein dürfen, steht in der ungeschriebenen Verfassung der Hausbootgemeinschaft und unterscheidet beide, die Reichen wie die Armen, von ihren Klassengenossen auf dem Festland. Das blank polierte BMW-Cabriolet und der verbeulte VW-Bus stehen Seite an Seite auf dem Parkplatz, beide mit demselben Aufkleber „Peace is patriotic“.


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mare No. 99

No. 99August / September 2013

Von Peter Haffner und Nicole Strasser

Peter Haffner, geboren 1953, lebte viele Jahre als Korrespondent in der Nähe von San Francisco, unweit der Pazifikküste. Jetzt berichtet er von Polen und Berlin aus für das Magazin“ des Schweizer Tagesanzeigers.

Nicole Strasser, Jahrgang 1975, studierte an der Hochschule Hannover Kommunikationsdesign und ist seit 2009 freie Fotografin. Während ihrer Arbeit wohnte sie auf dem Hausboot von Shoshana Mills am Maindock 4. Drei Frauen und ein Hund – und keine einzige Tür im Haus, nicht einmal vor dem Bad.

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Vita Peter Haffner, geboren 1953, lebte viele Jahre als Korrespondent in der Nähe von San Francisco, unweit der Pazifikküste. Jetzt berichtet er von Polen und Berlin aus für das Magazin“ des Schweizer Tagesanzeigers.

Nicole Strasser, Jahrgang 1975, studierte an der Hochschule Hannover Kommunikationsdesign und ist seit 2009 freie Fotografin. Während ihrer Arbeit wohnte sie auf dem Hausboot von Shoshana Mills am Maindock 4. Drei Frauen und ein Hund – und keine einzige Tür im Haus, nicht einmal vor dem Bad.
Person Von Peter Haffner und Nicole Strasser
Vita Peter Haffner, geboren 1953, lebte viele Jahre als Korrespondent in der Nähe von San Francisco, unweit der Pazifikküste. Jetzt berichtet er von Polen und Berlin aus für das Magazin“ des Schweizer Tagesanzeigers.

Nicole Strasser, Jahrgang 1975, studierte an der Hochschule Hannover Kommunikationsdesign und ist seit 2009 freie Fotografin. Während ihrer Arbeit wohnte sie auf dem Hausboot von Shoshana Mills am Maindock 4. Drei Frauen und ein Hund – und keine einzige Tür im Haus, nicht einmal vor dem Bad.
Person Von Peter Haffner und Nicole Strasser