Freischwimmer

Zur Zeit der Rassentrennung in den USA durften Schwarze nicht im Meer baden. An einem Strand in Florida regte sich Widerstand

An einem Sonntag im Jahr 1935 stand Abraham Lincoln Lewis nach der Rückkehr vom Kirchgang an einem der riesigen Fenster im ersten Stock seiner 22-Zimmer-Villa in Jacksonville, Florida. Die Hände über der Weste seines seidenen Anzugs gefaltet, starrte er über die leuchtende Blumenpracht des weitläufigen Gartens hinweg auf einen Park, der sein Grundstück von den nicht minder großen seiner Nachbarn trennte.

Plötzlich riss ihn eine helle Stimme aus seinen Grübeleien, und er spürte, wie eine kleine Hand sich in die seine stahl. „Großvater, es ist so heiß. Wollen wir nicht ans Meer zum Schwimmen gehen?“, lockte seine Enkelin und zog an seinem Arm.

Lewis war ein beherrschter Mensch, fordernd gegenüber sich selbst und Untergebenen, seiner Kirche treu und mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Niemals wurde er ausfallend oder fluchte er. Und doch spürte das Mädchen seine mühsam gezügelte Emotion, als er antwortete: „Die Strände des Staates Florida sind 1197 Meilen lang. Aber für Leute wie uns ist dort nicht einmal so viel Platz, dass wir auch nur unser Handtuch ausbreiten könnten.“

Liebevoll betrachtete Lewis das Gesicht seiner Enkelin, die ihre Stirn nachdenklich in Falten gelegt hatte. Schwarzen war der Zutritt zu Amerikas Stränden gesetzlich untersagt. Sie waren so unerreichbar wie das weiße Wohnviertel hinter dem Park, auf den Lewis eben noch geblickt hatte. Sein Geld konnte ihm vieles kaufen, nicht jedoch das Recht, an einem sonnigen Wochenende mit seiner Enkelin im Meer zu baden.

Abraham Lincoln Lewis war am 29. März 1865, im Jahr der offiziellen Abschaffung der Sklaverei, als freier Bürger in Madison, Florida, geboren worden. Seine Eltern hatten ihm seinen Namen zu Ehren ihres Befreiers gegeben, des Präsidenten Abraham Lincoln. Elf Tage nach Lewis’ Geburt kapitulierte der letzte General der Konföderierten, das Ende des amerikanischen Bürgerkriegs nahte. Doch weder waren Schwarze in Amerika nun wirklich frei, noch besaßen sie die gleichen Rechte wie weiße Amerikaner. An die Stelle der Sklaverei traten Rassentrennung, Benachteiligung und Verfolgung: weniger Lohn für gleiche Arbeit, höhere Preise für gleiche Güter, schlechtere Ausbildung und keine Chance auf Karriere, keine Bedienung in Restaurants, beim Friseur oder an Tankstellen. Schwarze wurden gelyncht, wenn sie es wagten, einen „weißen“ Strand zu betreten. Sie mussten langjährige Prozesse führen, um sich das Recht zu erstreiten, ein öffentliches Schwimmbad besuchen zu dürfen. Widerwillige Sheriffs mussten sie beim Baden vor dem Mob schützen, murrende Hausmeister ließen danach das gesamte Wasser ab und desinfizierten den Pool.

Lewis würde bald seinen 70. Geburtstag feiern. Gegen alle Widrigkeiten der Diskriminierung hatte er es weit gebracht. Auch jetzt noch, 1935, war er bereit, eine große Idee in die Tat umzusetzen: Er würde einen Urlaubsort am Meer bauen – nur für Schwarze. Sein Werbeslogan würde lauten: „Erholung und Entspannung ohne Erniedrigung!“ Und um den wegweisenden Charakter dieser Unternehmung zu unterstreichen, würde er ihr einen wahrhaft programmatischen Namen geben: American Beach.

Lewis hatte 22 Jahre in einem Sägewerk geschuftet, zunächst als einfacher Arbeiter, dann als Mechaniker und schließlich als Vorarbeiter, als höchst bezahlter Schwarzer des ganzen Betriebs. Im Alter von 35 Jahren nahm sein Leben eine Wendung: Mit einer Einlage von je 100 Dollar gründete er gemeinsam mit dem Pastor und fünf weiteren Mitgliedern der Bethel Baptist Church in Jacksonville am 15. Januar 1901 Floridas erste und später größte Versicherung, die Afro-American Life Insurance Company.


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mare No. 38

No. 38Juni / Juli 2003

Von Matias Boem

Matias Boem, Jahrgang 1960, lebt als freier Radioredakteur und -moderator sowie Roman- und Hörspielautor in Hamburg. Die Recherchen für eine Reportagereihe über die Musikszene des amerikanischen Südens führten ihn auch nach Amelia Island. Dort lernte er A. L. Lewis’ Urenkelin, die Sängerin MaVynee Betsch, kennen, die ihr Familienalbum für ihn öffnete.

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Vita Matias Boem, Jahrgang 1960, lebt als freier Radioredakteur und -moderator sowie Roman- und Hörspielautor in Hamburg. Die Recherchen für eine Reportagereihe über die Musikszene des amerikanischen Südens führten ihn auch nach Amelia Island. Dort lernte er A. L. Lewis’ Urenkelin, die Sängerin MaVynee Betsch, kennen, die ihr Familienalbum für ihn öffnete.
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Vita Matias Boem, Jahrgang 1960, lebt als freier Radioredakteur und -moderator sowie Roman- und Hörspielautor in Hamburg. Die Recherchen für eine Reportagereihe über die Musikszene des amerikanischen Südens führten ihn auch nach Amelia Island. Dort lernte er A. L. Lewis’ Urenkelin, die Sängerin MaVynee Betsch, kennen, die ihr Familienalbum für ihn öffnete.
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