Freibeuter der Worte

Blaise Cendrars, ein Schweizer Uhrmachersohn, schrieb sich zum legenden­umrankten Fabuliermeister der literarischen Seefahrt

Niemand, so sagt man, habe die griechische Landschaft schöner beschrieben als der Dichter Friedrich Hölderlin. Obwohl der arme Hauslehrer, im Gegensatz zu dem Zeitgenossen Goethe und anderen gut verdienenden Philhellenen des 19. Jahrhunderts, das Land nie gesehen hatte. Blaise Cendrars, ein Kollege des 20. Jahrhunderts, war nie ein Seemann. Doch er schrieb aus der Sicht eines Seefahrers, der unentwegt die Meere durchkreuzt, hier und dort anlandet und in der Heimat von seinen Reisen erzählt. Von den Menschen, Farben, Geräuschen und den Düften ferner Länder. „Wenn man aus der Straße von Gibraltar hinausfährt“, so schreibt er, dann „riecht es wie bei uns zu Hause. Das Mittelmeer riecht nach Wäscheschrank und Marmeladespind.“ Auch die Häfen haben ihre unverwechselbaren Noten für ihn, sie duften nach „Federnelke“, so wie Marseille, oder nach „Birken, Schilf und Blaubeeren“, nach „Zigeunerpomade“, wie Sankt Petersburg. „Gerüche, die das Lachen der Frauen aufquirlen und schäumen lassen.“ Nach Fisch, Diesel und Schweiß, nach den prosaischen Abwässern einer Großstadt, stinken sie nie.

Cendrars näherte sich seinen Geschichten stets auf dem Seeweg. „Die ersten Stöße des Windes trugen den Duft der Gärten herüber“, und „die aufspritzende Gischt vermischte sich mit dem warmen Geruch von frischem Fisch und schalem Safrandunst“. Der Schriftsteller erlebt das Meer mit allen Sinnen. Auch die Seefahrer, so Cendrars, seien ohne einen ausgeprägten Geruchssinn in der Weite der Ozeane verloren. Die Logbücher der portugiesischen Segler seien voller „olfaktorischer Hinweise“ für Lotsen und Navigatoren gewesen, die „mit der Nase im Wind“ segelten, die selbst unter Deck noch „den beißenden Geruch des Nebels“ wahrnahmen und für die die abgründige Tiefe des Meeres „den Geruch eines Raubtieres“ besaß.

Doch Cendrars’ Erzählungen sind nicht nur Poesie. Sie sind Seemannsgarn erster Güte. Unsichtbar verläuft die Linie zwischen Fiktion und Wirklichkeit, unbemerkt öffnet sich die Tür in die Welt der Fantasie. Weshalb die Literaten einen Genius in ihm sahen, die Pragmatiker dagegen ihn einen Lügner schimpften. Sie haben Fritz Sauser, dem Mann, der sich hinter dem schönen Pseudonym Blaise Cendrars verbirgt, die Unverbundenheit zur Wahrheit zeitlebens vorgehalten. Cendrars kümmerte sich wenig um sie. Er sah sich als Dichter, sogar der eigenen Biografie, und schreckte vor keiner Lüge zurück. So ist er nicht im „Hôtel des Étrangers“ in Paris zur Welt gekommen, wie er Zeit seines Lebens schrieb. Er ist auch nicht in Ägypten unter der Obhut einer schwarzen Amme aufgewachsen, nicht als Sohn eines genialen, die Welt bereisenden Erfinders und Abenteurers geboren und nie in China und Sibirien gewesen. Cendrars war der Sohn eines bescheidenen Uhrmachers, geboren in La-Chaux-de-Fonds, in einem lichtscheuen Schweizer Tal nahe der französischen Grenze. Aufgewachsen in Sigriswil, 1000 Meter über dem Meer und eine halbe Million Meter von ihm entfernt. Doch mit Blick auf den Spiegel des Thuner Sees. Dort also, wo das Meer am weitesten, aber die Sehnsucht nach ihm am größten ist.

Der Kokon aus Geschichten, den Cendrars im Lauf seines Lebens mehr und mehr um sich wob, wurde zum bewunderten Mythos. Als er starb, standen in allen Nachrufen Auszüge der fiktiven Biografie. Erstaunt stand Georg Sauser am Grab seines berühmten Bruders, schüttelte der literarischen Creme von Paris die Hand, Menschen, „die sich als alte Bekannte“ des Schriftstellers vorstellten und doch nur Unsinn zu erzählen wussten. Georg Sauser hatte „während dieser ewigen Konversationen … einen Papagei im Kopf, der immer nur plapperte: Von wem reden sie denn, etwa von Blaise? Nein, Blaise, das war etwas anderes …“ Und wenn er sich berichtigend einschaltete, dann dachten sie: „Ach, der arme Kerl hat von seinem Bruder aber auch gar nichts begriffen.“

Auch ein Schulkamerad, später Lehrer im heimatlichen Kanton, machte sich eifrig daran, die dichterischen Lügen zu entlarven, und bewies, dass der prominente Dorfbewohner nicht im Alter von 14 Jahren und mit einem Koffer voller Tafelsilber aus dem Vaterhaus flüchtete, sondern seine erste Reise erst mit 17 mit einem Ticket nach Sankt Petersburg antrat, wo er eine Anstellung bei einem Uhrmacher hatte. Biografen rauften sich post mortem die Haare, worüber sich Cendrars schon zu Lebzeiten amüsierte. Doch nicht allein aus Liebe zur Lüge verfälschte er seinen Lebenslauf. Schon in „Le Panama ou Les Aventures de mes sept oncles“, seinem ersten großen Gedicht, schreibt er: „Ich möchte der Anonyme bleiben.“ Und auch der Walfänger aus dem späten Roman „Dan Yack“ sagt: „Verschwinden, am liebsten in alle Länder der Welt gleichzeitig!“ Vielleicht war es diese Sehnsucht, aus der Enge der Täler in die Welt und damit in die Anonymität zu fliehen, die ihm die Daheimgebliebenen nicht verziehen.

„Bourlinguer“ (dt.: „Auf allen Meeren“) heißt eines seiner Bücher. Die Lexika verzeichnen unter dem ursprünglich nautischen Begriff das Ankämpfen gegen schwere See, aber auch das Herumtreiben, Schlingern, Stromern. Der Titel passt zu diesem Buch, das eine Aneinanderreihung tagebuchartiger Erzählungen enthält, schlicht überschrieben mit den Orten, an denen sie sich ereignen: Venedig, Neapel, La Coruña, Bordeaux, Brest, Antwerpen – lauter Hafenstädte. Nur die letzte Station liegt an der Seine: „Paris, Tor zum Meer“. Dort hatte alles begonnen. Von hier war er aufgebrochen, der Mann, der als Fremdenlegionär im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren und nichts Eiligeres zu tun hatte, als das Schreiben mit der Linken zu erlernen. In Paris hatte er ein Zimmer in der Rue de Savoie, „wo er seine sogenannten Papiere angehäuft hatte. Alte Zeitungen, Notizblöcke mit Bemerkungen vollgeschrieben, Zeichnungen von Chagall“, aber „er wohnte nur selten in seinem Zimmer, er bevorzugte Hotels, was ihm den Eindruck gab, in dieser Welt zu reisen“.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 72. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

  mare No. 72

No. 72Februar / März 2009

Von Hans W. Korfmann

Hans W. Korfmann, Jahrgang 1956, lebt in Berlin. Er schreibt Reisereportagen für die Zeit und die Frankfurter Allgemeine, ist Kolumnist der Frankfurter Rundschau und Herausgeber der Kreuzberger Chronik – Geschichte(n) aus einem Stadtteil. Den Dichter Blaise Cendrars hat er schon früh im Leben schätzen gelernt. Als Jugendlicher entfloh er mit den Schriften des vermeintlichen Weltreisenden dem zermürbenden Schulalltag.

Mehr Informationen
Vita Hans W. Korfmann, Jahrgang 1956, lebt in Berlin. Er schreibt Reisereportagen für die Zeit und die Frankfurter Allgemeine, ist Kolumnist der Frankfurter Rundschau und Herausgeber der Kreuzberger Chronik – Geschichte(n) aus einem Stadtteil. Den Dichter Blaise Cendrars hat er schon früh im Leben schätzen gelernt. Als Jugendlicher entfloh er mit den Schriften des vermeintlichen Weltreisenden dem zermürbenden Schulalltag.
Person Von Hans W. Korfmann
Vita Hans W. Korfmann, Jahrgang 1956, lebt in Berlin. Er schreibt Reisereportagen für die Zeit und die Frankfurter Allgemeine, ist Kolumnist der Frankfurter Rundschau und Herausgeber der Kreuzberger Chronik – Geschichte(n) aus einem Stadtteil. Den Dichter Blaise Cendrars hat er schon früh im Leben schätzen gelernt. Als Jugendlicher entfloh er mit den Schriften des vermeintlichen Weltreisenden dem zermürbenden Schulalltag.
Person Von Hans W. Korfmann