Frau Hesses Geheimrezept

Einer klugen Hausfrau aus Sachsen verdankt die moderne Mikro­biologie ihren wichtigsten Helfer im Labor

Es war ein heißer Sommertag des Jahres 1881, der Walther Hesse zum Verzweifeln und seine Frau Fanny Angelina auf eine Idee brachte, die die Wissenschaft revolutionieren sollte. Der Grund für den Ärger des Bezirksarztes im sächsischen Schwarzenberg und begeisterten Bakteriologen der ersten Stunde: Die dünne Schicht aus Gelatine auf der Innenseite der Glasgefäße, auf der er seine Bakterien kultivierte, verflüssigte sich in der Wärme, die winzigen Bakterienkolonien versanken unerforscht im Glibber. Und auch ohne Sommerhitze zerlief das Kulturmedium oft, weil viele Bakterien die für Stabilität sorgenden Kollagenfasern der Gelatine verdauen können.

So konnte Hesse nicht arbeiten. Dabei hatte er den Trick mit der Gelatine eben anlässlich eines Forschungsaufenthalts am Kaiserlichen Gesundheitsamt in Berlin vom schon damals berühmten Mikrobiologen Robert Koch gelernt. Kochs Methode war tatsächlich ein großer Fortschritt für die noch in den Kinderschuhen steckende Mikrobiologie. In Paris etwa arbeitete sein Kollege Louis Pasteur mit Fleischbrühe. Darin gediehen zwar alle möglichen Mikroben prächtig, jedoch in einer Artenvielfalt, die eine genauere Untersuchung einzelner Spezies unmöglich machte. „Wenn einer nicht mit reinen Kulturen arbeitet, da kommt nur Unsinn und Penicillium heraus“, beschrieb der deutsche Pilzforscher Oscar Brefeld damals dieses Problem. Schimmelpilze der Gattung Penicillium sind mit ihren Sporen allgegenwärtig und dominieren bald jede mikrobielle Mischkultur.

Um Mikroben in Reinkultur zu züchten, benötigt man einen sterilen und halbwegs festen Nährboden, auf dem individuelle Bakterienzellen durch stete Teilung winzige, aber mit bloßem Auge sichtbare Kolonien bilden, die sich dann gezielt untersuchen und artenrein vermehren lassen. Gekochte Kartoffeln und Spiegeleier, mit denen einige Pioniere der Mikrobiologie arbeiteten, erwiesen sich als unpraktisch, weil man sie nicht unter dem Mikroskop betrachten konnte. Gefragt war ein sterilisierbares, transparentes Nährmedium mit gleichbleibenden Eigenschaften. Dem kamen mit Gelatine verfestigte Nährlösungen, wie sie Robert Koch und Walther Hesse nutzten, schon recht nahe. Wenn sie nur nicht immer zerronnen wären.
Auftritt Fanny Angelina Hesse. Lina, so ihr Rufname, war das älteste Kind des aus Emden stammenden und in New York zu Wohlstand gekommenen Kaufmanns Henry (eigentlich Hinrich) Gottfried Eilshemius und seiner in Lugano geborenen Frau Cecile. Der junge Walther hatte Lina zuerst auf einer Reise als Schiffsarzt nach Amerika kennengelernt und wenig später bei einem Besuch der Familie Eilshemius in Deutschland wiedergesehen. Die beiden heirateten im Mai 1874 und ließen sich in Sachsen nieder, wo Lina drei Söhne zur Welt brachte. Als „höhere Tochter“ hatte sie ein vornehmes Mädchenpensionat in der Schweiz besucht, das sie auf eine Rolle als Mutter und Hausfrau vorbereitete.

Doch darüber hinaus legte Lina Hesse auch großes Interesse an der Forschung ihres Mannes an den Tag. Im heimischen Labor arbeitete sie als Laborantin an Walthers Seite und fertigte auch die wissenschaftlichen Illustrationen für seine Fachpublikationen an. Einen prominenten Platz in der Geschichte der Mikrobiologie sicherte sie sich jedoch mit ihrer glänzenden Idee für einen neuartigen Grundstoff für Bakteriennährböden.

Was wirklich an jenem heißen Tag im Jahr 1881 geschah, ist nur ungenau überliefert. Einem 1992 erschienenen Artikel ihres Enkels Wolfgang Hesse zufolge soll es der entnervte Walther gewesen sein, der seine Frau fragte, warum in aller Welt ihre Wackelpuddings und Fruchtgelees selbst in der größten Hitze stabil blieben, während seine Gelatinenährböden zerflössen. Eine Generation dichter am Geschehen war Friedrich Hesse. Auf einen Brief des Sohnes der Hesses beruft sich eine 1939 im „Journal of Bacteriology“ erschienene Variante der Geschichte jenes Heurekamoments. Demnach war es Lina selbst, die ihrem frustrierten Walther empfahl, es einmal mit ihrem speziellen Geliermittel zu versuchen, mit dem sie in der Küche arbeitete: Agar.

Agar-Agar, kurz: Agar, auch bekannt als Japanische Gelatine, wird aus verschiedenen Meeresalgen, insbesondere aus der Gruppe der Rotalgen gewonnen. Chemisch gesehen ist der Stoff aus der Zellwand der Algen ein Polymer, dessen Bausteine Abkömmlinge des Zuckers Galaktose sind. In Asien wird er bereits seit dem 17. Jahrhundert im größeren Stil aus Rotalgen gewonnen und als Geliermittel für allerlei Speisen genutzt. Heute lieben Vegetarier in aller Welt Agar als Ersatz für die aus Schlachtabfällen gewonnene Gelatine. Der entscheidende Vorteil des Agars aus Sicht der Mikrobiologie ist seine große Stabilität: In Wasser aufgekocht, bildet schon eine einprozentige Agarlösung ein festes Gel, das sich erst bei Temperaturen nahe dem Siedepunkt wieder verflüssigt. Zudem ist das Polysaccharid nicht nur für den Menschen, sondern auch für die meisten Bakterien unverdaulich. Auf diese Weise kann es die verschiedensten Nährsubstrate verfestigen und eignet sich für eine große Anzahl verschiedener Bakterienarten.

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mare No. 140

mare No. 140Juni / Juli 2020

Von Georg Rüschemeyer

Agar als Kulturmedium für Bakterien kennt Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, Biologe und Wissenschaftsjournalist in Freiburg, noch aus dem Studium. Dass dahinter der geniale Einfall der offenbar ziemlich aufgeweckten Frau Hesse aus Dresden steckte, wurde in seinem Mikrobiologiepraktikum aber nie erwähnt.

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Vita Agar als Kulturmedium für Bakterien kennt Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, Biologe und Wissenschaftsjournalist in Freiburg, noch aus dem Studium. Dass dahinter der geniale Einfall der offenbar ziemlich aufgeweckten Frau Hesse aus Dresden steckte, wurde in seinem Mikrobiologiepraktikum aber nie erwähnt.
Person Von Georg Rüschemeyer
Vita Agar als Kulturmedium für Bakterien kennt Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, Biologe und Wissenschaftsjournalist in Freiburg, noch aus dem Studium. Dass dahinter der geniale Einfall der offenbar ziemlich aufgeweckten Frau Hesse aus Dresden steckte, wurde in seinem Mikrobiologiepraktikum aber nie erwähnt.
Person Von Georg Rüschemeyer