Folge 4: Eisschollen-Rallye

Der Kapitän über die Suche nach einer Scholle zum Überwintern

Tromsø, am 20. September 2019. Die Querstrahler arbeiten, und langsam drücken sie die „Polarstern“ von der Pier. Der Lotse ist an Bord, die Besatzung auf Manöverstation. An der Pier stehen viele eigens angereiste Menschen und winken uns zu. In der ersten Reihe meine Frau. Etwas verloren steht sie da; sieben Monate bleibe ich auf See. Auf Expedition. Eingefroren in der Arktis. Der logistische Aufwand ist gigantisch. Dennoch liegt vieles im Ungewissen. Amundsen hat gesagt: Abenteuer ist ein Mangel an Planung. Erwartet uns das Abenteuer?

Elegant dreht das Schiff in den Fjord und lässt Tromsø hinter sich. Wir fahren gemeinsam mit dem russischen Forschungseisbrecher „Akademik Fedorov“ ins Eis. Er hat noch Ausrüstung sowie Forscher und Techniker an Bord, die uns bei der Suche nach einer geeigneten Scholle und später beim Aufbau der Messstationen helfen.

Gegen Mitternacht verlassen wir die norwegische Küste. Der Lotse ist schon von Bord gegangen. „Good luck, Captain, safe return for you and your ship.“

Das Leuchtfeuer von Fugløya leuchtet uns noch lange nach. Kurs rechtweisend 049, zur Nordküste Nowaja Semljas. Dann durch das Schelfgebiet der Karasee, das sehr gut vermessen ist. Der Meteorologe an Bord kündigt Schlechtwetter an: Wind aus Nordost, Beaufort sieben, vier Meter Welle. Das steckt das Schiff locker weg. Also weiter. Wir haben es eilig. Wir müssen noch vier Messgeräte bergen, jedes so teuer wie ein Einfamilienhaus, die in der Karasee auf dem Meeresgrund abgesetzt wurden und nun, nach einem Jahr Messzeit, automatisch auftauchen.

Am 25. September fahren wir ins Meereis. Drei Tage später sind die Messgeräte geborgen, und wir setzen die Fahrt fort nach Norden, ins Zielgebiet bei 85° N 135° O. Hier treffen wir auf einen starken Strom, die Transpolardrift, der nach Nordwesten quer durch den Arktischen Ozean knapp am Pol vorbeiführt und schließlich in die Framstraße zwischen Spitzbergen und Grönland mündet. Mit dieser Strömung wollen wir driften.

Die „Akademik Fedorov“ ist bereits auf der Suche nach einer geeigneten Scholle. Sie hat zwei Mi-8-Hubschrauber mit gro- ßer Reichweite an Bord. Unsere Hubschrauber sind kleiner. In einem Gebiet von mehreren hundert Quadratkilometern werden 17 große Schollen beprobt. Schon im Vorfeld wurden Satellitenbilder ausgewertet. Unsere Wunschscholle sollte möglichst über zwei Kilometer lang sein und mindestens einen Winter unbeschadet überstanden haben.

Doch die Suche ist er- nüchternd: Es gibt keine ausreichend großen Schollen, die älter als ein Jahr sind. In letzter Zeit ist ein immer größerer Teil der zentralen Arktis im Sommer eisfrei. Das Eis wird einfach nicht mehr alt. Aber wir dürfen nicht aufgeben. Nur hier kann die Drift beginnen.

Am 30. September stoppen wir auf der Position 85° 07,3'˘N 138° 04,6' O in der Nähe einer 2,5 mal 3,5 Kilometer großen Scholle. Eine Gruppe von Meereisphysikern fliegt hinüber und nimmt Probebohrun- gen vor. Die Ergebnisse sind nicht berauschend. Aber die Scholle ist besser als alles, was wir bislang beprobt haben. Der überwiegende Teil besteht aus 30 Zentimeter starkem Neueis, aber sie hat einen ein mal zwei Kilometer großen Kern aus übereinander geschobenem, fest gepresstem Eis mit Stärken zwischen 0,5 und 1,4 Metern. Wir investieren einen weiteren Tag in die Vermessung. Die Kollegen von der „Akademik Fedorov“ melden, dass ihre Suche bislang vergeblich war. Die Zeit drängt. In 14 Tagen setzt die Polarnacht ein, und wir müssen bis dahin ein Camp aus mehreren Hütten aufgebaut und die Mehrzahl der Messgeräte installiert haben.

Wir treffen uns im „Blauen Salon“ der „Polarstern“, die Kapitäne der „Polarstern“ und der „Akademik Fedorov“, die Fahrtleiter sowie die Meereisexperten beider Schiffe. Die Messergebnisse der in Betracht kommenden Schollen werden verglichen. Unsere Scholle, die wir zwei Tage lang gründlich untersucht haben, ist die mit dem größten Potenzial. Sie könnte den Winter überstehen. Alle sind sich einig: Wir haben unsere Scholle gefunden.

mare No. 138

mare No. 138Februar / März 2020

Von Stefan Schwarze und Esther Horvath

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