Folge 2: Der Puls steigt

Bald geht es los zu einer extremen Forschungsreise – neun Monate im Eis des Nordpols. Was dem Chef der Expedition in diesen Tagen durch den Kopf geht

Es sind nur noch ein paar Tage, bis ich nach Tromsø aufbrechen werde, zur größten Arktisexpedition unserer Zeit. Wir werden zum ersten Mal einen modernen Forschungseisbrecher ganzjährig in die zentrale Arktis bringen, in die direkte Umgebung des Nordpols, und dabei erstmals auch während des langen arktischen Winters dort forschen können. Eisige Temperaturen bis zu minus 45 Grad Celsius, harsche Stürme und monatelange Polarnacht erwarten uns.

Um dies überhaupt möglich zu machen, brauchen wir eine Flotte von weiteren vier Eisbrechern aus Russland, China und Schweden, die unser Expeditionsschiff, die deutsche „Polarstern“, unterstützen. Mehr als 500 Menschen aus 17 Nationen werden während der verschiedenen Phasen der Expedition in der zentralen Arktis dabei sein. Flugzeuge, Helikopter und Treibstoffdepots auf den nördlichsten der sibirischen Inseln leisten weitere Unterstützungsaufgaben. Und ich muss als Kopf von MOSAiC, so der Name der Expedition, sicherstellen, dass auch alles funktioniert, alle heil wieder zurückkommen und wir die für die Klimaforschung so dringend benötigten Messungen durchführen können – eine Wahnsinnsaufgabe. Der Puls steigt.

Was muss alles mit, was brauchen wir, damit wir unsere Arbeiten machen können, alles glatt läuft und wir auch mit dem Ungeplanten bis hin zu eventuellen Unfällen umgehen können? Jetzt ist die letzte Gelegenheit, Dinge nachzusenden, die wir bislang übersehen haben. Sobald wir am 20. September abgelegt haben, sind wir auf Gedeih und Verderb auf das angewiesen, was wir dabeihaben.

Auch die noch verbleibende Zeit mit meiner Familie wird von Tag zu Tag wertvoller. Es sickert in das Bewusstsein von uns allen ein, dass wir uns im nächsten Jahr für neun Monate nicht sehen werden, Weihnachten, Neujahr und alle unsere Geburtstage getrennt feiern werden. Dies tut der Begeisterung meiner beiden neun und elf Jahre alten Söhne für die Expedition keinen Abbruch. Sie wissen alles darüber, werden mitfiebern und sich teilweise selbst wie am Nordpol fühlen. Das macht es einfacher und tröstet über die lange Trennung zum Teil hinweg. Meine Frau kennt mich nicht anders – ich bin schon immer auf langen Expeditionen gewesen, und auch sie teilt meine Begeisterung dafür.

Und wir können während der Expedition wenigstens miteinander telefonieren. Ich bin in diesen Tagen in Gedanken oft bei Fridtjof Nansen und seinem Team. Die Forscher waren 1893, vor mehr als 125 Jahren, ebenfalls zu einer solchen Expedition aufgebrochen und zeigten mit ihrem hölzernen Segelschiff, der „Fram“, dass solch eine Expedition funktioniert – eine gewaltige Pionierleistung. Zum ersten Mal machen wir dies jetzt mit einem modernen Forschungseisbrecher nach. Aber Nansen und seine Leute brachen damals in das komplett Unbekannte auf, ohne jede Kommunikation und ohne zu wissen, ob sie jemals lebend zurückkommen. Wie mag es ihnen in den Tagen vor dem Aufbruch ergangen sein? Welche bangen Gefühle müssen die Männer (ja, damals waren es nur Männer, das ist heute anders) und ihre Familien beim Abschied gehabt haben? Und um wie viel besser haben wir es heute!

Auch für meine privaten Dinge beginnt jetzt die heiße Phase des Packens. In der Wohnung wachsen verschiedene Haufen mit Sachen, die mitmüssen, es sieht aus wie in einem Expeditionsvorbereitungslager. Ich gehe Punkt für Punkt auf meinen langen Listen durch; bald wird alles abgehakt sein. Dinge zu vergessen ist keine Option. Unterwegs kaufen geht nicht, Nachsenden funktioniert nicht. Wenn die warmen Socken, der Gesichtsschutz oder die Stirnlampe zu Hause bleiben, habe ich ein echtes Problem. Gleichzeitig freue ich mich wahnsinnig darauf, dass es endlich losgeht, nach vielen Jahren der Planungen und der Vorbereitungen.

Wenn ich am 20. September erst einmal das Land hinter mir verschwinden sehe, werde ich ganz ruhig werden. Die eigentliche Arbeit kann beginnen.

mare No. 136

No. 136Oktober / November 2019

Von Markus Rex und Esther Horvath

Text: Markus Rex

Foto: Esther Horvath

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Vita Text: Markus Rex

Foto: Esther Horvath
Person Von Markus Rex und Esther Horvath
Vita Text: Markus Rex

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