Folge 1: Bald kommt die Eiszeit

An Bord der „Polarstern“ lassen sich Forscher ein Jahr im Arkti­schen Meer einfrieren. In mare berichten sie von ihrer Expedition

Wir haben im Flughafenshop noch einen Adapter gefunden, damit wir beide über mein Telefon unseren MOSAiC-Soundtrack hören können – das gehört schließlich seit unserer gemeinsamen Reise auf der „Polarstern“ irgendwie dazu. Meine Kollegin Bjela und ich sind mal wieder auf dem Weg nach Spitzbergen, um dort an einem weiteren Training teilzunehmen. Diesmal werden wir mit Mitgliedern der „Polarstern“-Crew das neue Überlebensequipment für Polargebiete kennenlernen und testen. Den Abschluss bilden dann 55 Stunden in der Rettungsinsel. Ich bin gespannt, was das wird. Auch wenn ich viel Zeit in der Arktis und diverse Trainings hinter mir habe – das ist eine echte Herausforderung. Mit der Kälte kann ich ziemlich gut umgehen, aber 55 Stunden können verdammt lang werden. Ich werde viel über mich selbst lernen in diesen Stunden.

Aber im Moment habe ich eigentlich gerade gar keinen Sinn für diese Reise. Durch meinen Kopf schwirren all die Dinge, die noch erledigt werden müssen. Nächste Woche ist die Deadline für die Frachtpapiere. Ich habe eine lange, lange Liste an Dingen, die ich bestellen muss, damit wir auch alles Notwendige an Bord haben. Das Konzept für die Stromversorgung auf dem Eis steht noch nicht hundertprozentig, das Handbuch für alle Teilnehmer muss endlich fertig werden, und das Logistik- und Sicherheitsteam muss dringend die Verträge bekommen – und wir sitzen stundenlang in einer Rettungsinsel und üben uns im Überleben. Aber wenn wir dann dort im Eis sind, die wunderbare Landschaft Spitzbergens sehen – Eisberge, Gletscher, Tiere – und im Team Aufgaben lösen und zusammenwachsen, dann weiß ich auch wieder, warum ich meine Arbeit liebe.

Seit März 2018 arbeite ich nun voll für das MOSAiC-Projekt. Es gab diverse Workshops und Meetings, und mir war schon nach kurzer Zeit klar, dass das ein großer Berg Arbeit ist. Der erste große Meilenstein war meine „Polarstern“-Fahrt Ende des letzten Jahres. Ich war zwar mehrmals auf dem Schiff, als es in Bremerhaven in der Werft war. Aber mitzufahren ist doch etwas ganz anderes – auch wenn das Polargefühl nicht so wirklich aufkommen wollte. Wir sind schließlich nur von Las Palmas bis Kapstadt gefahren. Trotzdem war die Vorstellung, mit diesem Schiff monatelang mitten im Eis zu sein, auf einmal viel realer.

Seit dieser Überfahrt haben sich die Ereignisse überschlagen. Ich bin von einem Training oder Workshop zum nächsten gereist. Wir haben auf Spitzbergen Gewehre, Nachtsichtgeräte und Stolperdraht mit Signalkörpern zur Eisbärabwehr in der Polarnacht getestet, und wir sind mit verschiedenen Anzügen im eiskalten Fjord schwimmen gegangen, um herauszufinden, welcher am besten für die Arbeit auf dem Eis geeignet ist. Und je tiefer wir in diese Thematiken einstiegen, um- so deutlicher wurde, wie viel noch erledigt werden muss. Auch wenn ich die Polarnacht auf Spitzbergen gut kenne – es ist für mich etwas Neues, völlig abgeschieden auf dem Meereis zu sein. Wir versuchten bei den Trainings alle Eventualitäten abzudecken, aber ich hatte oft Sorge, irgendetwas Elementares zu übersehen. Es gab Momente, in denen ich dachte: Das schaffen wir nie.

Und dann kam die Snow & Ice School in Finnland. Zehn Tage auf der zugefrorenen Ostsee, fast 40 Leute aus allen möglichen Disziplinen, um zu lernen, wie man Eiskerne bohrt, Schneeanalysen macht und sicher auf dem Eis arbeitet. Vielleicht war das mein „Startschuss“ für MOSAiC. Wir alle würden auf einem der Abschnitte dabei sein. Es entsteht eine unglaubliche Dynamik mit den vielen tollen Menschen, die alle an einem Strang ziehen, um dieses Wahnsinnsprojekt auf die Beine zu stellen. Denn MOSAiC ist in vieler Hinsicht keine gewöhnliche „Polarstern“-Expedition. Natürlich gibt es viele verschiedene Projekte, aber die Teams müssen alle zusammenarbeiten, um die Zeitreihen über das Jahr hindurch vergleichbar zu halten. Das war zum ersten Mal wirkliches „Expeditionsgefühl“ und hat unglaublich motiviert. Es ist zwar noch viel zu tun – aber irgendwie schaffen wir das.

mare No. 135

No. 135August / September 2019

Von Verena Mohaupt und Esther Horvath

Von Verena Mohaupt und Esther Horvath

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Person Von Verena Mohaupt und Esther Horvath
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