Fluchtpunkt rote Sonne

Ein tragisches Leben, voller Verluste und vergeblichem Mühen um die Liebe eines Übervaters. Erst in der Abgeschiedenheit von Capri fand Monika Mann zu ihrem inneren Frieden

An einem steinigen, ins Meer fallenden Abhang klettert eine nicht mehr ganz junge Frau in die Höhe. Sie ist sportlich gekleidet und blickt fragend, leicht die Stirn runzelnd in die Kamera des über ihr stehenden Fotografen. Fast scheint sie dem Meer entstiegen, und wer die Insel Capri kennt, weiß um die Felsen und Klippen. Es bedarf der Hände und Füße, um sich festzuhalten. Das signierte Foto verwendete Monika Mann für die Erstausgabe ihres Erinnerungsbands „Vergangenes und Gegenwärtiges“; es verdeutlichte plastisch ihre Position und entsprach ihrem Sinn für Zeichen und Symbole. Im Kontrast von Wasser und Stein, von selbstbewusster Handlung und hilflos wirkendem Ausdruck, lagen die Pole ihrer Persönlichkeit. Im schnellen Wechsel konnte sie intuitiv reagieren oder rational handeln, arrogant oder bescheiden sein, ein Kind von Thomas und Katia Mann, im Glanz und Schatten einer berühmten Familie aufgewachsen.

Seit einigen Monaten lebte sie auf Capri, hinter ihr lagen die Schrecken der Vergangenheit, sinnbildlich das Meer. Auf dem Foto zeigt es sich ruhig, doch damals, im September 1940, nach der Torpedierung des Schiffes, auf dem sich das junge Ehepaar Lányi-Mann auf der Flucht von London nach Kanada befand, war es aufgewühlt und stürmisch bewegt. Bis ein englischer Zerstörer die Schiffbrüchigen barg, trieb Monika Mann, entsprechend ihren Angaben, 20 Stunden „auf einem Stück Holz“ im kalten Wasser.

Jede Minute mag unendlich gewesen sein, Stunden dagegen sind nicht vorstellbar. Gerade sie, die als kränklich, zart und ängstlich galt, widerstand den Elementen. Festhalten am Leben, das hätte ihr niemand zugetraut, an „einem Stück Holz“, das literarisch verdichtet gleichsam für die Geschichte ihres Überlebens steht. Vermutlich saß sie in einem der Rettungsboote, der Spekulation darüber, wie es wirklich war, ist keine dramatische Grenze gesetzt. Kurz vor Mitternacht klingelten die Glocken Alarm, daraufhin Lärm, Entsetzen, der Fall in die Tiefe. Ehemann Jenö Lányi ertrank ganz in ihrer Nähe, seine Rufe verhallten, ihre Stimme versagte, „Horror und Licht“, Tod und Leben beherrschten sie, jeder war auf sich gestellt.

Auf sicherem Boden wechseln ihre Stimmungen, Jubel und Qual lösen einander ab, „es gab das unmissverständliche Empfinden, gerettet und getroffen zu sein – zerreißende und furchtbare Prüfung“. Weshalb versank er in den Fluten und nicht sie? Schuld und Scham nagen an ihr und verlangen nach einer Antwort. All die nachträglichen Deutungen, Versuche einer Sinngebung: War es Zufall oder Schicksal, Bereitschaft zum Tod? Höchst banal und damit tragisch, waren Verlust und Leid die Folgen eines Krieges, dem sie entkommen wollten.

Erneut wird sie ihr Glück versuchen, dieses Mal fährt sie alleine über den Ozean, auch wenn sie eine Schiffspassage gern vermieden hätte. Immer wieder treibt sie dieser überraschende, zähe Lebenswille. In Amerika verliert sie trotzdem jeden Halt, sie treibt ins Ungewisse, fällt den Eltern und Geschwistern zur Last. Die Toten im Meer kehren zurück, Verlust und Trauer, die Angst, verloren zu gehen, bedrängen sie. Die Überlebende einer Katastrophe zu sein schont und belastet zugleich. Wie ein Schatten verfolgt sie ihre Geschichte, reduziert sich die Wahrnehmung auf den einen, tragischen Punkt. Im Umfeld der Familie verstärken sich diese Momente, Distanz und Sprachlosigkeit lähmen die Begegnungen und erschweren die Verarbeitung ihrer traumatischen Erfahrung: „Ich fühlte mich so, als trüge ich eine Maske und ein schwarzes Maskenkostüm – als würden die Leute mich anstarren und flüstern, sie muss von einer dunklen Welt gekommen sein – oder ich fühlte mich wie ein Neugeborenes, gerade vom Himmel Gefallenes, das nach einer Zuflucht sucht.“

Einige Freunde nehmen sie ernst, geben ihr eine Chance, sie sucht Zuspruch und Orientierung, verlangt manchmal zu viel. Allmählich verblassen die Bilder, es kommt die Furcht, den Geliebten gänzlich zu verlieren, sein Antlitz zu vergessen. Zwölf Jahre bleibt sie in New York und seiner nördlichen Umgebung, pflegt Kontakte zu Künstlern und besucht Schreibkurse an der Stockbridge School. Briefe geben Auskunft über die Höhen und Tiefen ihres Emigrantenlebens, dem Verlust von Identität und Sicherheit. In den ersten Monaten behält sie den Doppelnamen Lányi-Mann noch bei, dann kehrt sie zu ihrem Geburtsnamen zurück, nutzt die Vorteile und nimmt die Nachteile in Kauf. Erst auf Capri wird sie ihre Geschichte jemandem neu erzählen können, Antonio Spadaro, er sah wohl als Einziger weder die Tochter eines berühmten Mannes noch die vom Schicksal Geschlagene in ihr.

Einen festen Wohnsitz hatte sie ebenso wenig wie einen Beruf, stets auf der Suche nach Geborgenheit und einer sinnvollen Tätigkeit, kehrt sie als amerikanische Staatsbürgerin im Herbst 1952 endgültig nach Europa zurück. Literarische Versuche landen in der Schublade, kurze Texte erscheinen in deutschsprachigen Zeitungen, englische Gedichte im New Yorker „Aufbau“. Zwei Jahre bleibt sie an der Riviera, verbringt, wie später auch, die Sommermonate in Tirol und der Schweiz. In Rom wohnt sie in einer Pension, bevor der Zufall sie nach Capri führt. Sie selbst wird sagen: „Der Wind hat mich hergetragen“, leicht wie ein Samenkorn, konnte auch sie zugrunde gehen oder Wurzeln schlagen.

Kurz vor dem Jahreswechsel, sie fühlte sich einsam und verloren in der großen Stadt, suchte sie einen Ort außerhalb Roms, an dem sie Ruhe finden und frei atmen konnte. Seit Langem schon bevorzugte sie die Natur und Menschenleere. Auf Empfehlung eines Freundes fuhr sie nach Capri und blieb dort 31 Jahre, in derselben kleinen Wohnung, im ersten Stock der Villa Monacone, mit freiem Blick aufs Meer, den Himmel und die vier Faraglioni, die berühmten Felsen, vor Augen, nach deren kleinstem die Villa benannt ist, eine bevorzugte Adresse. Ihr Name scheint wie geschaffen dafür: Monika Mann, Villa Monacone, eine schöne Übereinstimmung der Buchstaben, sie legt Wert auf die Gestaltung ihrer Briefbögen und Visitenkarten.


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mare No. 70

No. 70Oktober / November 2008

Von Karin Andert

Die Literaturwissenschaftlerin und Soziologin Karin Andert war viele Jahre Studienleiterin der Evangelischen Akademie Tutzing. Sie ist Herausgeberin der Text- und Briefsammlung Monika Mann. Das fahrende Haus. Aus dem Leben einer Weltbürgerin, die 2007 im Rowohlt-Verlag erschien.

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Vita Die Literaturwissenschaftlerin und Soziologin Karin Andert war viele Jahre Studienleiterin der Evangelischen Akademie Tutzing. Sie ist Herausgeberin der Text- und Briefsammlung Monika Mann. Das fahrende Haus. Aus dem Leben einer Weltbürgerin, die 2007 im Rowohlt-Verlag erschien.
Person Von Karin Andert
Vita Die Literaturwissenschaftlerin und Soziologin Karin Andert war viele Jahre Studienleiterin der Evangelischen Akademie Tutzing. Sie ist Herausgeberin der Text- und Briefsammlung Monika Mann. Das fahrende Haus. Aus dem Leben einer Weltbürgerin, die 2007 im Rowohlt-Verlag erschien.
Person Von Karin Andert