Flottieren im elektrischen Ozean

In seinen Anfangsjahren besaß das Radio eine besondere Vorliebe für das maritime Drama. „Funker-Dichter“ richteten sich aus dem rauschenden Chaos der Meere an die Hörer

Europas Radio beginnt in Europa mit einer Lust an maritimen Fantasien. 1923 produzierte der Ingenieur F. A. Tiburtius in den Berliner Experimentalstudios von Telefunken das erste deutsche Hörspiel „Anke“. Das nicht öffentlich ausgestrahlte Stück spielte in einer einsamen Leuchtturmstube an stürmischer Küste. Das tosende Meer und die schlagenden Segel eines bedrohten Schiffes stellten die Geräuschkulisse.

Die allererste literarische Sendung im deutschen Rundfunk setzt die dramatisch gefärbte Affinität zum Marinen fort: Am 3. 11. 1923 trug Peter Ihle Heinrich Heines „Seegespenst“ vor, ein Gedicht, das von verlockenden, gefährlichen Halluzinationen bei einer Seefahrt berichtet. Auch das erste französische Hörspiel, „Marémoto. Radio-Drame de la Mer“ von Gabriel Germinet und Pierre Cusy (1924), reißt die Hörer hinein in ein katastrophisches Meeresszenario. Das Stück setzt eine Havarie auf hoher See in Szene. Man hört hier ein Schiff geräuschvoll untergehen, vernimmt das Röcheln der Ertrinkenden, die Schreie der Sterbenden. Die Szenerie wurde offenbar von Hörern für bare Münze genommen; sie meldeten während der Ausstrahlung dem Marineministerium einen Notfall auf See. Das Hörspiel wurde daraufhin mehr als zehn Jahre nicht gesendet.

Im deutschen Rundfunk kommt es Ende der 1920er Jahre zu einer regelrechten Flut maritimer Radiodramen. Es beginnt am 14. 1. 1928 beim Sender Funk-Stunde Berlin mit Oskar Möhrings „Sturm über dem Pazifik“, auch dies die Inszenierung eines Schiffsunglücks. Es folgen 1929 bekannte Stücke wie Bert Brechts „Der Lindberghflug“, Friedrich Wolfs „SOS … rao rao … Foyn – ‚Krassin‘ rettet ,Italia‘“ und Walter Erich Schäfers „Malmgreen“.

Das Unterhaltungsradio inszeniert immer wieder Schiffskatastrophen, den drohenden oder tatsächlichen Untergang im tosenden Meer. Orkanische akustische Kulissen bilden das Ambiente der neuen Helden des medialen Zeitalters, der Funker, die einsam der Heimtücke des Meeres trotzen. Nicht selten bedeutet „Funker-Sein“ „Dichter-Sein“. „Funker-Dichter“ richten sich aus dem chaotischen Rauschen des Ozeans an ihre Hörer. Und so mag es nicht verwundern, dass sich auch die Dichter der 1920er Jahre auf die poetische Qualität des Radioäthers beziehen: Rudolf Leonhard setzt der lärmenden „Welt der Motoren“ den feinstimmigen „kleinen Ton“ „aus dem Äther“ entgegen, der „über Ozeane aus einer anderen Religion“ in unsere Herzen fällt, und Johannes R. Becher hört „des Tauchers Stimme auf dem Grund der Meere“ und sieht „hinter einem Ozean, fern“, einen Rundfunkhörer.

Die wahren Katastrophen finden dabei für die funkischen Helden nicht im Meer an sich, sondern im Äther statt. Das eigentliche Drama ist die gestörte Funkverbindung, der abbrechende Kontakt und die Antwortlosigkeit, die Isolation im Netz der Funkverbindungen. In vielen Hörspielen der Anfangszeit hört man es morsen, orten und peilen, Längen und Breiten werden durchgesagt, Notrufe abgesetzt, Verschollene gerufen. Oder aber der Raum des Äthers weitet sich zur unendlichen Wüste absoluter Einsamkeit, in der der Dichter-Funker die Versehrtheit und Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz besingt. Der ätherische Ozean ist der Ort funkischer Dramen und Katastrophen.

All diese Katastrophen im Äther deuten an, dass das Radio der Anfangszeit in großer Nähe zum Vorgängermedium, dem Seefunk, gedacht wurde, der selbst erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts flächendeckend zum Einsatz kam. Er steuerte den transatlantischen Verkehr riesiger Ozeandampfer, die nun in einem ätherischen Ozean elektromagnetischer Wellen schwammen, navigiert und informiert durch flottierende Zeichen, die sich von zweidimensionalen Karten erhoben hatten. Nachrichten wurden auf Kurzformen reduziert, um sie morsealphabetisch zwischen einsamen Küstenstationen und Schiffen hin- und herzusenden.

Der Weltöffentlichkeit kam diese Revolution der Schifffahrt erstmals durch eine Katastrophe zu Bewusstsein: durch den Untergang der „Titanic“ am 14. 4. 1912. Die Welt erhielt die Nachricht von dem Ereignis dank der neuen Technologie zwar in ungeheurer Geschwindigkeit, aber in Form einer Falschmeldung: An diesem Tag meldete die „New York Evening Sun“, alle Passagiere des Luxusliners seien gerettet. Die Falschmeldung war ein Ergebnis einer gegenseitigen Störung von Funksprüchen. Überdies stellte sich bald heraus, dass der Funker der „Titanic“ gefunkte Warnungen von Nachbarschiffen ignoriert hatte. Die drahtlose Nachrichtenübermittlung stand nun im Licht der Weltöffentlichkeit, als neues Medium, das der Reglementierung bedarf.

Schon im Jahr darauf wurden in London auf der First International Conference on the Safety of Life at Sea sowohl die ständige Bereitschaft der Funker beschlossen als auch die Seenotfrequenzordnung verabschiedet und vor allem die Trennung von Amateur- und Berufsfrequenzen eingeführt. Die elektromagnetischen Wellen im ätherischen Ozean mussten geordnet werden. In Europa übernahm, anders als in den USA, der Staat die Oberherrschaft im Äther.


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mare No. 74

No. 74Juni / Juli 2009

Von Katja Rothe

Katja Rothe, Jahrgang 1976, ist Germanistin und Kulturwissenschaftlerin an der Universität Wien. Sie hat mit einer Arbeit zum frühen Radio in Europa promoviert und beschäftigt sich derzeit mit der Wissensgeschichte des Experiments zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie gab zuletzt den Band Techniken der Übereinkunft. Zur Medialität des Politischen (2009) mit heraus.

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Vita Katja Rothe, Jahrgang 1976, ist Germanistin und Kulturwissenschaftlerin an der Universität Wien. Sie hat mit einer Arbeit zum frühen Radio in Europa promoviert und beschäftigt sich derzeit mit der Wissensgeschichte des Experiments zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie gab zuletzt den Band Techniken der Übereinkunft. Zur Medialität des Politischen (2009) mit heraus.
Person Von Katja Rothe
Vita Katja Rothe, Jahrgang 1976, ist Germanistin und Kulturwissenschaftlerin an der Universität Wien. Sie hat mit einer Arbeit zum frühen Radio in Europa promoviert und beschäftigt sich derzeit mit der Wissensgeschichte des Experiments zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie gab zuletzt den Band Techniken der Übereinkunft. Zur Medialität des Politischen (2009) mit heraus.
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