Fenster ins Innere

Unsere ungebroche­ne Lust an Aquarien lässt tief blicken

Heimaquarien in Form kleiner Glasbehälter mit Fischen, Pflanzen und anderem Meeresgetier wurden Mitte des 19. Jahrhunderts populär. Also zu einem Zeitpunkt, als neue wissenschaftliche Erkenntnisse und das Interesse an der Natur auch breitere Schichten erreichten, vor allem dank Vivarien wie Zoos und Glashäusern, in denen lebende Tiere und Pflanzen ausgestellt wurden. Sie hatten vor allem drei Funktionen: Sie dienten der Bildung, förderten die Ehrfurcht vor Gott angesichts der Vielfalt seiner Geschöpfe, und sie zeigten, dass der Mensch mithilfe der Technik die Natur beherrschen konnte. Es war ein neuartiges Erlebnis, ja ein kleines Wunder, ein Palmenhaus zu betreten und so aus einem europäischen Winter direkt in die Tropen zu gelangen, wo bunte Schmetterlinge fremdartige Blüten umgaukelten.

Ein Aquarium war nicht weniger exotisch und spektakulär – ein Stück Unterwasserwelt, eingefangen in einem Salon. Ein Aquarium war einerseits ein Hobby, andererseits der Beweis, dass sein Besitzer mit der Zeit ging. Um 1870 gab es in Hamburg, Paris und Berlin aufwendige öffentliche Aquarien.

Damals hielt man die Natur noch für unerschöpflich. Auch wenn man sich gelegentlich wegen der Überfischung Sorgen machte, glaubte man, jeglicher Schaden, den der Mensch in der Natur anrichtete, sei unbedeutend und lasse sich leicht wieder gutmachen. 1907 veröffentlichte der englische Autor Edmund Gosse seine bemerkenswerte Autobiografie „Father and Son“. Darin beschreibt er, wie er als Junge seinem Vater, einem namhaften Naturforscher, half, Lebewesen aus den Gezeitentümpeln an der Küste der Grafschaft Devon zu sammeln und zu klassifizieren. Das war 1859, in dem Jahr, als Charles Darwin „Über die Entstehung der Arten“ publizierte und die Tümpel in den Felsen unberührt und voll bunter Lebewesen waren.

Die illustrierten Bücher von Vater Gosse weckten weithin Interesse an Meerestieren und führten unfreiwillig zu einem Heimaquarienboom. Nun stürzten sich mit Netzen und Töpfen bewaffnete Leute auf die Küste von Devon. 50 Jahre später schrieb Gosse’ Sohn: „Diese Gezeitentümpel, in denen es von schönen, empfindlichen Lebensformen nur so wimmelte, gibt es nicht mehr. Sie sind entweiht, geplündert und herabgewürdigt worden. Eine Armee von ‚Sammlern‘ ist durchgezogen und hat sie bis in den hintersten Winkel verwüstet.“ Es machte Vater und Sohn traurig, dass ihre Forschungen genau das zerstört hatten, was sie so liebten.

Mittlerweile hat moderne Technik die Aquarien von Grund auf verändert. Dank Elektrizität lässt sich das Wasser wärmen, beleuchten und mit Sauerstoff versorgen, kann Nahrung mechanisch verabreicht werden, erfolgt die Überprüfung von Temperaturen und pH-Werten automatisch. Noch schöner ist, dass in den Städten dank neuer Glas- und Kunststoffarten riesige Aquarien gebaut werden konnten, die es möglich machen, zwischen Wasserwänden zu spazieren, wie zum Beispiel in Barcelona, wo man im 80 Meter langen Tunnel des städtischen Aquariums die unmittelbare Nähe von Haien und Stachelrochen genießen kann.

Doch hier beginnt man sich zu fragen, was genau man da eigentlich erlebt und inwiefern es sich von dem unterscheidet, was die Erbauer von Zoos, Glashäusern und Aquarien Mitte des 19. Jahrhunderts beabsichtigt hatten. Das Element der Bildung ist noch immer vorhanden, das religiöse aber praktisch nicht mehr; und dass wir die Natur beherrschen, gilt als selbstverständlich, wobei uns diese Tatsache mittlerweile weniger mit Staunen erfüllt als mit Bedenken.

Und wie steht es mit dem Schauvergnügen? Wir sind seit Langem mit Imax-Filmen und computergenerierten Effekten vertraut, die immer realistischer wirken und uns Dinge aus nächster Nähe erleben lassen. Dank Discovery Channel oder Filmen unerschrockener Naturforscher wie David Attenborough sind wir daran gewöhnt, Geschöpfe und Ereignisse zu beobachten, die man nie zuvor gesehen hat, wie Riesenkalmare in 1000 Meter Tiefe oder die Paarungsrituale unbekannter Meeresbodenbewohner. Heutzutage nehmen riesige Flachbildschirme unsere Wohnzimmerwände ein. Ob man Fische auf solchen Fernsehern betrachtet oder live in einem Aquarium – wo genau liegt da der Unterschied?


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mare No. 101

No. 101Dezember 2013 / Januar 2014

Von James Hamilton-Paterson und Pio De Rose

James Hamilton-Paterson, Jahrgang 1941, britischer Schriftsteller in Österreich, verspürt in Aquarien ein Unbehagen, seit er in den 1980er Jahren miterlebte, wie philippinische Fischer mit Zyanid Jagd auf Rifffische machten. Die Tiere waren für den Aquarienhandel bestimmt.

Mit seinen Aquarienbildern schloss der italienische Fotograf Pio De Rose, geboren 1987, sein Fotojournalismusstudium an der Londoner University of Westminster ab.

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Vita James Hamilton-Paterson, Jahrgang 1941, britischer Schriftsteller in Österreich, verspürt in Aquarien ein Unbehagen, seit er in den 1980er Jahren miterlebte, wie philippinische Fischer mit Zyanid Jagd auf Rifffische machten. Die Tiere waren für den Aquarienhandel bestimmt.

Mit seinen Aquarienbildern schloss der italienische Fotograf Pio De Rose, geboren 1987, sein Fotojournalismusstudium an der Londoner University of Westminster ab.
Person Von James Hamilton-Paterson und Pio De Rose
Vita James Hamilton-Paterson, Jahrgang 1941, britischer Schriftsteller in Österreich, verspürt in Aquarien ein Unbehagen, seit er in den 1980er Jahren miterlebte, wie philippinische Fischer mit Zyanid Jagd auf Rifffische machten. Die Tiere waren für den Aquarienhandel bestimmt.

Mit seinen Aquarienbildern schloss der italienische Fotograf Pio De Rose, geboren 1987, sein Fotojournalismusstudium an der Londoner University of Westminster ab.
Person Von James Hamilton-Paterson und Pio De Rose