Fata Morgana im Eis

Dieselben Luftspiegeleien, die Reisende in der Wüste verwirren, treiben auch über den Polarmeeren ihre trügerischen Spiele

Den 10. September 1964 sollte der sowjetische Arktisforscher W. S. Antonow sein Lebtag nicht vergessen. Wie die Tage zuvor war er von der Station Dixon östlich der Halbinsel Jamal zu einem Eiserkundungsflug über der Karasee aufgebrochen. Die meteorologischen Bedingungen waren miserabel: Dichter Nebel hing fast bis zur Meeresoberfläche herab und erlaubte eine Flughöhe von nur etwa 50 Metern. Für das Polarmeer, dessen Eisschollen sich zu haushohen Barrieren auftürmen können, sind 50 Meter nicht allzu viel. Ein riskanter Flug.

Um 13 Uhr Moskauer Zeit schlug Antonow den Kurs zur Woronin-Insel ein, um von dort nach Dixon zurückzukehren. Etwa vier Kilometer davor klarte der Nebel auf und gab allmählich die Sicht auf das Eiland frei, in dessen Mitte sich ein Navigationszeichen erhob.

„Kaum hatten wir die Woronin-Insel im Blickfeld, erkannten wir rechts davon deutlich eine zweite, uns unbekannte, kuppelartige Insel. Sie war von einer hellbraunen Färbung, die für die arktische Tundra zu dieser Jahreszeit charakteristisch ist“, beschrieb Antonow sein Erlebnis. „Wir waren ziemlich baff, denn die nächsten gebirgigen Inseln von Sewernaja Semlja waren nicht weniger als 100 Kilometer entfernt.“

Und auf diese Insel raste das Beobachtungsflugzeug zu. Es blieben nur ein paar Sekunden, um die Kollision zu vermeiden. Obwohl er hundertprozentig sicher war, dass es an dieser Stelle keine bergige Insel geben konnte, war der Eindruck so unmittelbar, dass Antonow die Maschine sofort hochzog.

Ein kurzer Blick auf den Radarschirm, und der Pilot sah, was er ohnehin wusste: Von einer unbekannten Insel war auf dem Schirm nichts zu erkennen. In diesem Gebiet gab es nur die flache Woronin-Insel, aber keine zweite Insel mit einer Erhebung. Beim Überflug verschwand die Insel. Kurz darauf zeichneten sich am Horizont ringsum flache Hügelketten ab. Aber auch von Hügeln war auf dem Schirm nichts zu sehen.

Das Phänomen, das Antonow für wenige Sekunden verblüfft hatte, ist als Fata Morgana der Arktis bekannt. Sie kommt, den Luftspiegelungen in den heißen Wüsten dieser Erde vergleichbar, durch Brechung der Lichtstrahlen an der Grenze zwischen warmen und kühlen Luftschichten zustande. Doch es gibt einen kleinen, folgenreichen Unterschied. In den subtropischen Wüsten liegen die kühlen Luftschichten über den heißen, bodennahen Luftzonen. Das ergibt relativ simple Bilder. In der Arktis und Antarktis hingegen sind die Verhältnisse genau umgekehrt: Die Luft über dem Eis ist sehr kalt, während höhere Luftschichten relativ warm sein können.

Auf ihrem Weg durch kalte und warme Luftmassen werden Lichtstrahlen zum kühleren Medium hin abgelenkt. Dabei beschreiben sie weit geschwungene Linien, die stets von den warmen Luftzonen fortführen hin zu den kalten Zonen nah am Boden. Liegen chaotische Abfolgen warmer und kühler Luftschichten vor, kommt es zu mannigfachen Lichtbrechungen. Die Vielfalt der entstehenden Bilder ist beeindruckend: Es gibt das einfache Bild und die Umkehrung, es kommen Doppelungen vor und Doppelungen mit einer Umkehrung des Bildes, ferner vielfache Bilder ein und desselben Objekts, starke Vergrößerungen in der vertikalen Richtung und Verzerrungen.

Oft fügen sich mehrere Bilder zu einem einzigen großen Bildkomplex zu-sammen, die von Seefahrern oft als große Landmassen wahrgenommen wurden. Da das Auge den kurvenreichen Weg von Lichtstrahlen nicht wahrnehmen kann, sondern eintreffende Strahlen zu Geraden verlängert, ist der Mensch nicht in der Lage, Phantombilder sofort zu erkennen. Er sieht buchstäblich Luftschlösser und schwebende Eisberge. Nur die Erfahrung kann ihm weiterhelfen.


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mare No. 45

No. 45August / September 2004

Von Henning Sietz

Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg.

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Vita Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg.
Person Von Henning Sietz
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