Familie Fisch

In einem Tallinner Parkpavillon regiert eine ganze Familie ein gehobenes Fischrestaurant – ihr spätes gastronomisches Glück

Am Anfang war das Angeln. Als jugendliches Hobby, aber doch irgendwie wegweisend. Nach seiner Zeit bei einer Satirezeitschrift wurde der Dichter Vladislav Koržets 1996 Chefredakteur eines Anglermagazins. Für seine Poesie bekam er den staatlichen Orden „Weißer Stern“. Seinen Lebensunterhalt aber verdiente er stets mit seiner Nähe zum Fisch, ab 2006 als Moderator von TV-Kochshows – nur Fischgerichte! In Estland ist Vladislav nicht irgendwer, man kennt ihn. Jetzt sitzt der 70-Jährige bei einem Kaffee auf der Terrasse vorm „Kalambuur“ und hat Küchenverbot.  

„Sein Herz“, erklärt Kaarel Koržets, sein Sohn und Chef, der sich kurz dazusetzt, direkt aus der Hitze der Küche. Tallinn im Juli: 30 Grad, draußen im Schatten – wann hat es das zuletzt gegeben? Und dann noch eine Gewitterwarnung. Die Tische im Hirvepark sind alle besetzt. Eine Markise allerdings darf der Familienbetrieb nicht an dem kleinen Pavillon anbringen: Denkmalschutz.

Der steht hier seit knapp 100 Jahren, der Zeit der ersten Republik. Nichts natürlich im Vergleich zur Festung und den Stadtmauern, in die sich der Pavillon einpasst. Die gehen auf das 13. Jahrhundert zurück, gebaut auf Befehl der dänischen Königin Margarethe. Große Geschichte. Da kommt die Geschichte des Pavillons eher prosaisch daher: zunächst als Toilettenhäuschen, vorn mit Eiscreme- und Limonadenverkauf, danach versuchte hier ein Schuhmacher sein Glück, dann ein Uhrmacher. Nach der Sowjetzeit wohnte dort eine Familie. Und erst in den 1990ern versuchte sich eine Frau mit einem Restaurant. Alle gaben wieder auf. 

Dann, 2005, kam Familie Koržets und richtete alles neu ein: Vladislav, klar, sein Sohn Kaarel, im früheren Leben Informa­tiker, der über seinen Vater zum Kochen kam, Kaarels Frau Merle und seine Schwester Britta. Die beiden Frauen machen vor allem den Service und die Buchführung. Alle fühlen sich verbunden mit der maritimen Küche, sind gleichberechtigte Teilhaber. Und Vladislavs Frau? Von ihr stammen die Seegemälde im Pavillon. Familie Fisch, sozusagen. Auch privat wohnen alle unter einem Dach, in einem Mehrgenerationenhaus in einem Vorort von Tallinn, zusammen mit den Enkeln.

Kaarel muss zurück in die Küche. Sein Anspruch ans Kochen ist hoch. Nur eine Frage noch: Wer von euch beiden ist denn nun der bessere Koch? Kaarel schaut etwas ratlos. Doch dann zeigt Vladislav auf seinen Sohn. War ja klar. 

Das Gewitter bleibt aus. Merle und Britta bedienen die Gäste an den voll besetzten Tischen. Sie bestellen frischen Fisch und gekühlten Weißwein. Hier gibt es weder Burger noch Cola. Wer ins „Kalambuur“ kommt, weiß, was er sucht. Und solche Gäste will Familie Koržets, abseits vom Touristentrubel in der Altstadt. Merle empfiehlt rohen Ostseeschnäpel als Vorspeise. Die Art gehört zur Ordnung der Lachsfische und hat ein magereres Fleisch. „Die lokalen Fischer“, so Merle, „essen ihn roh aus der Hand, direkt an Bord.“ Im „Kalambuur“ werden die Filets mit einem Schuss Wodka und Rosa Pfeffer mariniert. 

Und, nach wessen Rezept? Da ist sich Vladislav nicht sicher. Es steht in ihrem gemeinsamen Buch über internationale Fischküche, ein dicker Wälzer, den Vater und Sohn gemeinsam veröffentlicht haben, darin sogar die Beschreibung des deutschen Bismarckherings. Ein echter Erfolg in Estland, der demnächst auch auf Finnisch erscheinen soll.  

Über dem kleinen Pavillon „Kalam­buur“ und den Bäumen des Hirveparks will die Sonne nicht untergehen. Weiße Nächte. Das wollen die Bewohner Tallinns ausnutzen. Kaarel schwitzt in der Küche. Vladislav will los. Auf ihn wartet, nein, nicht seine Angel, sondern eine fast fertige Anthologie. Das ist weit mehr als ein Hobby: Seit 1991 ist er Mitglied des Est­nischen Schriftstellerverbands, er publi­zierte ein Kinderbuch und schrieb Dreh­bücher. 2017 erhielt er den Literaturpreis des Estnischen Kulturkapitals. 

Eine letzte Frage an Vladislav: Worum geht es in deinen Gedichten? „Um den Fisch natürlich. Er lebt in einer ganz anderen Sphäre als wir Menschen. Das macht ihn so interessant.“ 


Ostseeschnäpel mit Wodka

Zutaten (für vier Personen)
400 Gramm Filet vom Ostseeschnäpel (ersatzweise Seelachs, Dorsch oder Heilbutt), 1 Esslöffel Salz, 1/2 Ess­löffel Zucker, etwas Rosa Pfeffer (Schinusbeeren) oder alternativ ­Wacholderbeeren, 1 Lauchzwiebel, 
1 Schuss Wodka.

Zubereitung
Die Filets in Streifen schneiden, salzen, zuckern. Von der Lauchzwiebel nur den weißen Teil in sehr feine Scheiben schneiden. Rosa Pfeffer und die Filetstreifen 
untermischen und einen Schuss Wodka dazugeben. Über Nacht im Kühlschrank kalt ziehen lassen. Mit Brioche servieren. 

Kalambuur
Toompuiestee 8, Tallinn, Estland, Telefon +372 56694274, www.kalambuur.ee/en
Derzeit sind nur Gruppenbuchungen ab 15 Leuten möglich. Bitte vorher anmelden, per Telefon oder per E-Mail: kalambuur@kalambuur.ee. 

mare No. 154

mare No. 154Oktober / November 2022

Von Roland Brockmann

Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer.

Mehr Informationen
Vita Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer.
Person Von Roland Brockmann
Vita Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer.
Person Von Roland Brockmann