Es ist Samstagfrüh, und vor dem Hafen von Kinmen, einer taiwanischen Inselgruppe direkt vor der chinesischen Südküste, parkt eine Phalanx von Reisebussen. Wie große hungrige Tiere stehen sie da. Ein Dutzend Reiseführer springt aus den Bussen und eilt zur Ankunftshalle der Fähre. Der Look: bequeme Schuhe, Schirmmütze, Weste, die Stimmen ein wenig heiser vom dauernden Rufen, Erklären, Lachen, Antreiben. In der Ankunftshalle bringen sie sich in Stellung, halten Schirme, Flaggen, Fahnen empor, selbst geschriebene Zettel mit der Aufschrift „Herzlich willkommen auf Kinmen“. Jetzt öffnet sich die automatische Tür, die Touristen aus China spült es heraus. Die elegante Dame mit der Zigarettenspitze, eine Gruppe Mädchen im Korean Style, sie oszillieren zwischen der notwendigen Coolness und der Aufregung, jetzt ganz woanders zu sein. Und auch Rentner Zhuang setzt zum ersten Mal in seinem Leben den orthopädiebeschuhten Fuß auf taiwanischen Boden. Die Reiseführer suchen ihre Schäfchen zusammen, klopfen auf Schultern, streicheln Kinderhaare, na, gute Überfahrt gehabt? Fehlt da noch wer? Schon auf dem Klo gewesen? Bitte geht schon mal zu Bus Nummer 321. 795. 831. Das alles geht schwindelerregend schnell. Mit der traumwandlerischen Sicherheit von gruppengestählten Busreisenden finden die Touristen aus China ihren Platz im richtigen Wagen, und schon brettern die Busse einer nach dem anderen die Straßen Kinmens entlang. Das wirkt so selbstverständlich, ist es aber nicht. Schließlich befinden wir uns hier im Maul des Tigers.
Am Pier des Hafens von Kinmen. Die Vormittagssonne scheint träge durch das breite Fenster der Kapitänsbrücke. Co-Kapitän Chen Shuishua, 75, nestelt in seiner Brusttasche, zieht eine dramatisch wirkende Sonnenbrille hervor, die ihm die Anmutung eines in die Jahre gekommenen Actionhelden verleiht. Seit 50 Jahren fährt Chen jetzt zur See, und da sich kein Nachwuchs findet, macht er einfach weiter. Chen prüft das Radar und blickt dann durch das Fenster. Weit und freundlich liegt das Meer vor ihm, Lichtreflexionen tanzen auf sanften Wellen. Zu seiner Rechten startet Kapitän Li Shuiping, 47, den Motor. Ein feiner summender Ton ertönt, und die Fähre legt ab. Die Sitze vibrieren verhalten. Die „Neuer Osten“, Baujahr 1997, 197 Sitzplätze im unteren Deck, 123 im oberen, zwei VIP-Kabinen, macht sich auf den Weg von Kinmen, Taiwan, nach Xiamen, China.
In den nächsten 30 Minuten wird die „Neuer Osten“ 13 nautische Meilen passieren. 13 nautische Meilen und einen Weltkonflikt, den viele als den gefährlichsten unserer Zeit beschreiben. Immer unverhohlener droht die chinesische Regierung damit, Taiwan, einen de facto unabhängigen Inselstaat, zu annektieren. Sie richtet Militärmanöver rund um Taiwan aus, schickt Patrouillenboote über die Meeresgrenze und täglich Kampfjets in den taiwanischen Luftraum. Da die USA ein enger, wenn auch informeller Verbündeter Taiwans sind und dem Inselstaat im Fall einer Invasion beistehen könnten, hat der Konflikt das Potenzial, sich zum großen Ringen der Supermächte USA und China auszuweiten. Zum Kampf um die Vorherrschaft im Indopazifik.
Dies ist die geopolitische Hintergrundmusik, zu der die „Neuer Osten“ durch die Meerenge schippert, eine von zehn Fähren, fünf chinesischen und fünf taiwanischen, die Stunde für Stunde von den taiwanischen Kinmen-Inseln zur chinesischen Millionenstadt Xiamen pendeln. Nirgends sind sich China und Taiwan geografisch so nah wie in der Meerenge, die Kapitän Chen jetzt durchpflügt. Blickt man von Klein-Kinmen, der kleineren der zwei größten Kinmen-Inseln, durch ein Fernrohr, kann man die Werbung auf einer Leinwand im ein paar Kilometer entfernten Xiamen verfolgen (Teigtaschen, Shampoo). An einer Stelle der Meerenge vergrößert China eine Insel mit Sandaufschüttungen, um einen Flughafen zu bauen. Dort ist China von sechs auf drei Kilometer an Kinmen herangerückt.
„Achtung, Durchsage!“, spricht Kapitän Li jetzt in das Mikrofon. „Ein Passagier hat seine Brille verloren. Sollten Sie sie finden, informieren Sie bitte das Kabinenpersonal.“ Die Küste Kinmens zieht vorbei, Bäume und flache Häuschen. Die „Neuer Osten“ nähert sich nun einer roten und einer grünen Boje, sie markieren die Seegrenze zwischen China und Taiwan. Kapitän Li spricht in sein Funkgerät. „Ja, hallo. Nachricht an das Küstenpersonal von Xiamen. Die ‚Neuer Osten‘ ist auf dem Weg zum Hafen. Wir haben 245 Passagiere an Bord.“ Chen nimmt sein Handy in die Hand und stellt das Mobilfunknetz um, jeder hat hier zwei Sim-Karten, eine für das taiwanische, eine für das chinesische Netz. Die „Neuer Osten“ befindet sich jetzt in chinesischen Gewässern.
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Angela Köckritz, geboren in München, studierte in Taiwan, war China- und Afrika-Korrespondentin der „Zeit“ und arbeitet derzeit für das Medium „China.Table“. Bei der Recherche für mare beeindruckten sie die Propagandalautsprecher auf Kinmen, mit denen Chinas Küste beschallt wurde.
Frank Schultze, Jahrgang 1959, studierte in Dortmund Bildjournalismus. Seit 2000 ist er Mitglied der Reportergemeinschaft Zeitenspiegel. Er arbeitet vorwiegend an entwicklungspolitischen Themen in den Krisenregionen der Welt, bei denen der Mensch im Mittelpunkt steht. Für diese Reportage reiste er zweimal nach Kinmen. „Es machte viel Spaß, zusammen mit der Autorin die Reisenden, Schmuggler und Touristen auf den Fähren zu begleiten.“
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| Vita | Angela Köckritz, geboren in München, studierte in Taiwan, war China- und Afrika-Korrespondentin der „Zeit“ und arbeitet derzeit für das Medium „China.Table“. Bei der Recherche für mare beeindruckten sie die Propagandalautsprecher auf Kinmen, mit denen Chinas Küste beschallt wurde. Frank Schultze, Jahrgang 1959, studierte in Dortmund Bildjournalismus. Seit 2000 ist er Mitglied der Reportergemeinschaft Zeitenspiegel. Er arbeitet vorwiegend an entwicklungspolitischen Themen in den Krisenregionen der Welt, bei denen der Mensch im Mittelpunkt steht. Für diese Reportage reiste er zweimal nach Kinmen. „Es machte viel Spaß, zusammen mit der Autorin die Reisenden, Schmuggler und Touristen auf den Fähren zu begleiten.“ |
| Person | Von Angela Köckritz und Frank Schultze |
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| Vita | Angela Köckritz, geboren in München, studierte in Taiwan, war China- und Afrika-Korrespondentin der „Zeit“ und arbeitet derzeit für das Medium „China.Table“. Bei der Recherche für mare beeindruckten sie die Propagandalautsprecher auf Kinmen, mit denen Chinas Küste beschallt wurde. Frank Schultze, Jahrgang 1959, studierte in Dortmund Bildjournalismus. Seit 2000 ist er Mitglied der Reportergemeinschaft Zeitenspiegel. Er arbeitet vorwiegend an entwicklungspolitischen Themen in den Krisenregionen der Welt, bei denen der Mensch im Mittelpunkt steht. Für diese Reportage reiste er zweimal nach Kinmen. „Es machte viel Spaß, zusammen mit der Autorin die Reisenden, Schmuggler und Touristen auf den Fähren zu begleiten.“ |
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