„Fahr mal langsam, ich hör was“

„Wir wollen keinen ertrinken lassen. Punkt.“ Der Hamburger Ingo Werth spricht im Interview mit mare über seine aufwühlende Arbeit in der zivilen Seenot­ret­tung

mare: Herr Werth, als am frühen Morgen des 14. Juni 2023 der Fischkutter mit mehr als 700 Geflüchteten an Bord vor der griechischen Küste sank, waren Sie samt siebenköpfiger Crew gerade an Bord der „Nadir“ im Einsatz auf dem zentralen Mittelmeer. Was ging in Ihnen vor, als Sie von der Katastrophe hörten?

Ingo Werth: Wir haben erst ein paar Tage nach dem Untergang des Schiffs davon erfahren, als wir in Lampedusa anlegten. Wir waren zu der Zeit zwischen Libyen, Italien und Tunesien unterwegs, weil die meisten Flüchtenden Kurs auf Westeuropa nehmen. Daher waren wir auch viel zu weit weg von der Unglücksstelle, um helfen zu können. Aber was da passiert ist, ist furchtbar erschütternd. Wir wissen ja gar nicht, wie viele Menschen ertrunken sind – 500, vielleicht 600, darunter viele Kinder. Es macht einen wahnsinnig wütend, wie mit Menschen umgegangen wird, die vollkommen wehrlos sind. Eine Küstenwache, die sich so verhält, ist wertlos. Und das Fatale ist: Es wäre vermeidbar gewesen. Man hätte dieses Schiff ohne Probleme retten können. Wenn man es gewollt hätte. Aber das Gegenteil wurde getan. Und daran sind viele beteiligt: die griechische Küstenwache, aber auch das Frontex-Flugzeug, das keinen Notruf abgesetzt hat, obwohl es das hätte tun müssen. Das war eine Situation, die man sofort hätte auflösen müssen. Dieses vollkommen überladene Schiff war schon bei Verlassen der libyschen Küste ein Seenotfall. Das wusste Frontex, das wusste die sogenannte libysche Küstenwache, das wusste die griechische Küstenwache. 

Sie waren dieses Jahr schon zweimal für einige Wochen als ziviler Seenotretter auf dem zentralen Mittelmeer unterwegs, einmal im April, zuletzt im Juni. Wie schätzen Sie die Lage dort ein?

Wir hatten noch nie so früh so viele Menschen auf dem Wasser wie dieses Jahr. Früher ging es Ende März oder Anfang April los. Inzwischen legen die Boote auch den ganzen Winter über ab, wenn die See ruhig ist. Allein in den Oster­tagen waren dieses Jahr 45 Flüchtlingsboote unterwegs. Viele kamen aus eigener Kraft in Lampedusa an, aber etwa die Hälfte geriet in Seenot. Wer soll die retten? Wir haben uns um sechs Boote gekümmert, die italienische Küstenwache um den Rest.
Zu diesem Zeitpunkt waren wir oft das einzige NGO-Schiff in der Gegend. Bei unserem Einsatz im Juni haben wir 14 oder 15 Boote betreut, insgesamt waren das 550 bis 600 Leute. Es gab Tage, da kamen auf Lampedusa täglich 1000 bis 1500 Menschen an. Das ist Wahnsinn.

Die Crew Ihres Vereins Resqship fährt in der Regel dreiwöchige Einsätze. Was für ein Schiff ist die „Nadir“?

Die „Nadir“ ist das kleinste Schiff der ganzen Flotte, das als Beobachtungsschiff in der privaten Seenotrettung auf dem Mittelmeer unterwegs ist. Es ist ein Motorsegler, 19 Meter lang, knapp fünf Meter breit, ein Zweimaster. Das Schiff startet von Malta aus. Von dort segeln wir los Richtung Lampedusa. Bei Rettungseinsätzen fahren wir allerdings mit Maschine. Am besten hole ich mal eine Karte …
(Ingo Werth – Jahrgang 1959, in blauem Poloshirt mit einem Segelschiff darauf, unter dem „Nadir Crew“ steht – holt eine Seekarte, die Libyens und Tunesiens Küstenlinie und das zentrale Mittelmeer zeigt. Er breitet sie auf dem Holztisch im Wintergarten seines Hauses in Hamburg-Lohbrügge aus, wo das Interview stattfindet. Erst zeigt er auf Libyen, dann auf die Hafenstadt Sfax in Tunesien.) 
In Sfax gehen momentan die meisten Routen los.

In Tunesien? Nicht mehr in Libyen?

In Libyen starten vornehmlich die großen Schiffe, mit 400 oder 600 Leuten an Bord, wie der Fischkutter, der vor der griechischen Küste sank. Diese großen Schiffe kommen meist aus dem Osten Libyens, aus der Gegend um Bengasi oder eben aus Tobruk, wie der Fischkutter mit den über 700 Menschen an Bord. Zuletzt starteten aber auch wieder ganz kleine Boote aus dem Westen Libyens. Doch der Hauptverkehr, um den wir uns kümmern, steuert zurzeit von Sfax aus auf Lampedusa zu.

Weil es der kürzere Seeweg ist?

Das hat verschiedene Gründe. Zum einen brauchen Menschen aus der Sub­sahara für Tunesien kein Visum. Zum anderen haben sie Angst vor der sogenannten libyschen Küstenwache. Die fangen ja in ihrem Gebiet bis zum 34. Breitengrad Nord viele Boote ab und treiben da ein übles Unwesen. Sie bringen die Migranten zurück in die Gefangenenlager, in denen ihnen Folter, Vergewaltigung und Mangelernährung drohen. Für die Menschen eine Katastrophe. Aber auch in Tunesien ist die Situation zurzeit schlimm. Der Arabische Frühling ist gekippt. Die haben Riesenprobleme: heftige Inflation, enorme Arbeits­losigkeit. Es gibt in Tunesien viele Arbeiter aus der Subsahara. Die werden in solch einer schwierigen wirtschaftlichen Lage natürlich als Erste entlassen. Sie verlieren dann aber nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihr Obdach. Außerdem werden sie angefeindet. Es gibt einen unglaublichen Rassismus in Tunesien und Libyen. Momentan kommen wieder bedrückende Hilferufe aus beiden Ländern.

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 160. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 160

mare No. 160Oktober / November 2023

Von Andrea Walter und Heike Ollertz

Andrea Walter, Jahrgang 1976, befasste sich schon einmal mit dem Thema Flucht, als sie über den ­Gedenkfriedhof schrieb, der im süditalienischen Dorf Tarsia für die Menschen errichtet werden sollte, die ihre Flucht über das Mittelmeer nicht überlebt ­hatten (mare No. 133).

Heike Ollertz, Jahrgang 1967, ist mare-Fotografin der ersten Stunde und lebt in Hamburg. Zwei ­Wochen lang begleitete und dokumentierte sie im Mittelmeer sieben Einsätze der „Nadir“. Dabei konnten 278 in Seenot geratene Menschen in ­Sicherheit gebracht werden. Für das kommende Jahr plant sie weitere Einsätze mit dem Resqship.

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Vita

Andrea Walter, Jahrgang 1976, befasste sich schon einmal mit dem Thema Flucht, als sie über den ­Gedenkfriedhof schrieb, der im süditalienischen Dorf Tarsia für die Menschen errichtet werden sollte, die ihre Flucht über das Mittelmeer nicht überlebt ­hatten (mare No. 133).

Heike Ollertz, Jahrgang 1967, ist mare-Fotografin der ersten Stunde und lebt in Hamburg. Zwei ­Wochen lang begleitete und dokumentierte sie im Mittelmeer sieben Einsätze der „Nadir“. Dabei konnten 278 in Seenot geratene Menschen in ­Sicherheit gebracht werden. Für das kommende Jahr plant sie weitere Einsätze mit dem Resqship.

Person Von Andrea Walter und Heike Ollertz
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Andrea Walter, Jahrgang 1976, befasste sich schon einmal mit dem Thema Flucht, als sie über den ­Gedenkfriedhof schrieb, der im süditalienischen Dorf Tarsia für die Menschen errichtet werden sollte, die ihre Flucht über das Mittelmeer nicht überlebt ­hatten (mare No. 133).

Heike Ollertz, Jahrgang 1967, ist mare-Fotografin der ersten Stunde und lebt in Hamburg. Zwei ­Wochen lang begleitete und dokumentierte sie im Mittelmeer sieben Einsätze der „Nadir“. Dabei konnten 278 in Seenot geratene Menschen in ­Sicherheit gebracht werden. Für das kommende Jahr plant sie weitere Einsätze mit dem Resqship.

Person Von Andrea Walter und Heike Ollertz