Exodus der Verzweifelten

Europa hat einen Hintereingang – das Meer. Illegale Einwanderer riskieren bei der Überfahrt ihr Leben

Das Märchen von der Meerenge beginnt auf der Geburtsstation. Am 17. Juli 2000 brachte Silvia Pual im Krankenhaus Punta Europa von Algeciras in Spanien einen Jungen von 3,8 Kilo zur Welt - sie nannte ihn Junior, und sein Name steht noch Monate später für Hoffnung, Glück und Toleranz. Silvia war zwei Jahre zuvor aus Sierra Leone geflohen, sie war halb tot, als sie mit dem Kind im Bauch in einem überfüllten Schlauchboot Spanien erreichte. Jetzt leben die junge Frau und ihr Sohn auf dem Campingplatz Riojara von Tarifa, direkt an dem Strand, an dem sie bewusstlos angespült worden waren. In der Klinik hat Silvia obendrein eine Freundin gefunden. Sie sagt: „Wir sind sehr, sehr happy."

Die Tragödie von der Meerenge endet auf dem Friedhof. Santo Cristo de las Animas, Patio zwei, hoch über Tarifa. Dort ruhen die ersten Afrikaner, die Anfang der neunziger Jahre auf der verbotenen Überfahrt in der Straße von Gibraltar ertrunken sind.

„Mohamed Mimoun" steht neben arabischen Zeichen auf einem Holzschild, und sein Name steht für Verzweiflung, Unglück, Misstrauen. Der Wind, der hier an 280 Tagen im Jahr weht, streicht über die Steine, das Gestrüpp, die verdorrten Blumen. An klaren Tagen hat man dort oben einen wunderbaren Blick auf das blaugrüne Wasser, die bunten Schiffe, die grauen Felsen Marokkos. Mohamed und die anderen konnten ihn nie genießen. Sie haben den Kontinent ihrer Träume als Tote erreicht.

Es ist kein Zufall, dass die Schicksale von Silvia, Junior und Mohamed zum selben Ort gehören. Die Kleinstadt Tarifa und ihre Strände sind zu einem Symbol geworden für die Reise ohne Pass und Ticket, die für viele in den Tod führt und für wenige in ein angenehmes Leben. In den Zeiten der Kolonialreiche ging es von Norden nach Süden, jetzt geht es von Süden nach Norden, von Armut und Krieg zu Wohlstand und Frieden. Mindestens eine halbe Million Menschen gelangen jährlich illegal in die Europäische Union, viele überwinden dabei zwangsläufig das Mittelmeer.

Wo sonst ist es so schmal wie hier? Man könnte aus vielen Orten erzählen und würde dabei sehr ähnliche Geschichten finden. In den Häfen der Ägäis versammeln sich Pakistani, Libanesen oder Kurden, um im Frachtraum unentdeckt durch die Inselwelt bis nach Griechenland zu gelangen.

In Durrës oder Vlorë an der albanischen Küste steigen bis zu hunderttausend Immigranten pro Jahr auf Schnellboote, die sie bei Nacht und Nebel die 100 Kilometer über die Adria nach Apulien bringen sollen, nach Otranto oder Ostuni. Manchmal, zuletzt 1999 während des Kosovo-Krieges, laufen sogar rostige Fähren ein und schockieren für einen Augenblick die Welt.

Algerier versuchen, irgendwie nach Marseille zu gelangen und weiter nach Paris. Ein weiterer Weg führt von Tunesien nach Sizilien. Überall geht es um ein riskantes Spiel mit hohem Einsatz und gnadenlosen Regeln. Nirgends ist das Nordufer dem Südufer so verlockend nahe wie am Estrecho, der Meerenge von Gibraltar.

14 Kilometer, ein Katzensprung! Erfahrene Surfer segeln in einer halben Stunde hinüber, sogar Schwimmwettbewerbe gibt es. Von Marokkos Nordspitze sieht man tagsüber die Stadt Tarifa mit ihrer Festung, bei besonders klarer Luft die großen, weißen Windräder auf den Hügeln. Nachts, wenn die Dunkelheit schützt, leuchten drüben die Lichter. Viele ahnen nicht, wie leicht das Nadelöhr zur Falle wird.

Es ist ein beliebter Hintereingang zum Paradies, das seine Pforten verrammelt. Zwar wird Europa alt. Eingedenk der niedrigen Geburtenraten brauchen Deutschland, Italien oder Spanien Millionen von Ausländern. Afrika und Asien sind jung, aber das nützt nichts. Im Rahmen des Schengener Abkommens hat die EU ihre Grenzen nach innen geöffnet und nach außen geschlossen, und auch dafür ist die Straße von Gibraltar ein gutes Beispiel. Marokkaner benötigen seit 1991 ein Visum, das schwer zu kriegen ist. Inzwischen rüstet sich das einstige Auswanderungsland Spanien gegen die Einwanderung wie einst bei der Invasion der Mauren, an deren Vertreibung im Jahre 1292 eine Inschrift am Tor zur Altstadt von Tarifa erinnert.

Die Übergänge an den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Marokko wurden mit EU-Hilfe bereits hochmodern abgedichtet, die Straße von Gibraltar soll für 240 Millionen Mark mit Radar und Sensoren ausgestattet werden. Außerdem hat die konservative spanische Regierung mit Hilfe ihrer absoluten Mehrheit trotz Protesten von Opposition und Menschen rechtsgruppen die Gesetze erheblich verschärft.

Doch das stoppt den Zustrom nicht. Im Jahr 2000 nahm die spanische Küstenwache mindestens 15 000 unerwünschte Einwanderer fest, drei Mal so viele wie 1999. 1000 Schiffbrüchige wurden gerettet und 60 Leichen geborgen, 54 Personen gelten als vermisst. Menschenrechtsorganisationen rechnen mit mindestens 300 Opfern. Elf davon starben in Silvias Gegenwart.


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mare No. 25

No. 25April / Mai 2001

Von Peter Burghardt

Peter Burghardt, Jahrgang 1966, ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Madrid. Dies ist sein erster Beitrag für mare.

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Vita Peter Burghardt, Jahrgang 1966, ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Madrid. Dies ist sein erster Beitrag für mare.
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