Ex occidente lux?

Die israelische Gesellschaft sucht entlang den Ufern des Mittelmeers nach einer neuen Identität

Israel ist ein Ort der Kontraste zwischen Orient und Okzident, zwischen Europa und der Levante und liegt dabei, bei allem Dazwischen-Sein, auch am Ufer des Mittelmeers. Blicken wir auf das Meer und fragen uns: Welche Bedeutung hat dieses atlantische Nebenmeer, das sich von Gibraltar bis an die Levante und von Südeuropa bis zum Maghreb erstreckt, für das israelische Bewusstsein, für die Entwicklung von Israeliness, dieser spezifisch israelischen säkularen Identität?

Nach zionistischer Geschichtsschreibung ist das Mittelmeer allein ein Ort der Passage; es benennt den Raum, der zu überwinden war, um das ersehnte Ziel zu erreichen. Auch für die Überlebenden des Holocausts blieb es ein Ort des Transits, um dem „Kontinent des Mordens“ zu entkommen. Doch seit den 1980er und besonders seit den 1990er Jahren gewinnt im akademischen und öffentlichen Diskurs eine neue Sicht auf das Mittelmeer an Popularität, die dem Meer zentrale Bedeutung in der Debatte um Israeliness zuschreibt. Dabei zeigt sich eine allgemeine Hinwendung zum Meer, und die Beziehung der Israelis zum Mittelmeer ist Teil der Kontroversen in Feuilletons wie unter Architekten, Stadtplanern, Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten.

In dieser Diskussion findet sich ein intellektuelles Konzept, das sich mit der räumlichen Dimension der israelischen Existenz beschäftigt: Yam Tikhoniut (hebräisch: Yam haTikhon; Mittelmeer, Meer der Mitte) ist der Diskurs über eine Identität und Kultur zwischen Europa und dem Orient, ein Zwischending.

Wo liegt Israel? Nicht in Europa. Aber es ist von Europa, wie schon oft geschrieben wurde. Die These beruht auf dem Ursprung der zionistischen Theorie und Praxis und auf der europäischen, vor allem osteuropäischen Herkunft der Staatsgründergeneration. Das moderne säkulare Israel wurde auf europäischen Ideen errichtet und ist ohne das europäische Exil nicht denkbar. Die Erinnerung an diese Vergangenheit ist der seit Generationen hörbare Grundton, der in allem Alltagsrauschen immer vernehmbar bleibt. Heute allerdings kommen neue, laute Stimmen hinzu, die von der Diaspora in Damaskus, Bagdad oder Addis Abeba erzählen. Die mizrachim, orientalischstämmige Juden, stimmen ein in die vertraute alltägliche Kakofonie, die von der zunehmenden Fragmentierung und Partikularisierung der Gesellschaft und dem heftigen innergesellschaftlichen Streit hervorgerufen wird. Auch wenn der Ton sich ändert, so lautet die unbeantwortete Frage in diesem Diskurs noch immer: Wohin gehören wir?

Israel ist zwar von Europa, liegt aber auch im Orient. In der Levante, am Ufer des Mittelmeers und – formalgeografisch – in Asien. Der Disput um die politischen und kulturellen Grenzen Israels ist voll im Gang und eng verknüpft mit den ungelösten Fragen nach regionaler, geografischer und kultureller Zugehörigkeit. Das Mittelmeer spielt in dieser Diskussion eine stärker werdende Rolle, und es berührt – metaphorisch wie realpolitisch – israelisches Selbstverständnis: Es ist zuerst geliebter Ort zum Baden, Sonnen und Matkot-Spielen, eine Art Strandtennis, der inoffizielle Nationalsport; überall entstehen attraktive Promenaden, Wege für Radfahrer und Skater säumen die Küste, und elegante Restaurants ziehen in einstige Hafenbrachen. Das Mittelmeer ist aber auch eine intellektuelle Projektionsfläche und geografischer Raum. Infolge der neuen Mittelmeer-Politik der EU, spätestens aber seit Nicolas Sarkozys Ruf nach einer „Mittelmeerunion“ wird das Meer der Mitte auch als übergeordneter politischer Raum gesehen.

Die Beobachtung der israelischen Gegenwart zeigt, dass die Mittelmeer-Idee zunehmend ihren Platz im Alltag findet und kulturelle Gewohnheiten prägt. Dabei tritt die Konstruktion einer ortsgebundenen, einer „Mittelmeer-Identität“ zunehmend in Erscheinung. Die häufige Benutzung des Wortes „mediterran“ als Chiffre in Restaurants und Tavernen nach griechischem Vorbild oder die vermehrte Erscheinung mediterraner Klischees in der Werbeästhetik, wie Oliven, Knoblauch, Sonne, Schafe oder pittoreske Häfen, fallen auf. Begriffe wie „Mittelmeer-Identität“ und Mediterraneanism werden in unterschiedlichsten Bereichen verwendet: in der Popmusik, in der Belletristik, in den beliebten Mittelmeer-Musiksendungen und im Mittelmeer-TV-Kanal Brisa ebenso wie im alltäglichen Gespräch. Sie bezeugen nicht nur die wachsende Popularität von Yam Tikhoniut, sondern auch die Entdeckung des Topos Mittelmeer als Wirtschaftskraft.

Die Verbreitung der Mittelmeer-Idee wächst in einer Zeit, in der die zionistischen Ideale der Gründerväter – der „Neue Jude ohne Vergangenheit“, der heroische „Sabra“ (der im Land geborene Israeli) und der „Schmelztiegel“ – angesichts wachsender Diversifizierung und Individualisierung in der multi- ethnischen Gesellschaft zunehmend infrage gestellt werden. Die drastischen Veränderungen des Gesellschaftsgefüges in der vergangenen Dekade – der Osloer Frieden oder der Fall des Eisernen Vorhangs, der mehr als eine Million neue Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel brachte – zogen einen Prozess der Neudefinition von regionaler Zugehörigkeit, Identität und Kultur nach sich, der Israel noch immer beschäftigt. In dieser Phase spielt das Mittelmeer eine zentrale Rolle.


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mare No. 67

No. 67April / Mai 2008

Von Alexandra Nocke

Alexandra Nocke, lebt als Kulturwissenschaftlerin und freie Kuratorin mit ihrer Familie in Berlin. Sie promovierte mit einer Arbeit zu Israels Mittelmeer-Kultur und geht in ihren Publikationen und Vorträgen der Frage nach Kultur und Identität im modernen Israel nach. Sie ist Mitherausgeberin von Jewish Topographies: Visions of Space – Traditions of Place (Ashgate, 2008).

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Vita Alexandra Nocke, lebt als Kulturwissenschaftlerin und freie Kuratorin mit ihrer Familie in Berlin. Sie promovierte mit einer Arbeit zu Israels Mittelmeer-Kultur und geht in ihren Publikationen und Vorträgen der Frage nach Kultur und Identität im modernen Israel nach. Sie ist Mitherausgeberin von Jewish Topographies: Visions of Space – Traditions of Place (Ashgate, 2008).
Person Von Alexandra Nocke
Vita Alexandra Nocke, lebt als Kulturwissenschaftlerin und freie Kuratorin mit ihrer Familie in Berlin. Sie promovierte mit einer Arbeit zu Israels Mittelmeer-Kultur und geht in ihren Publikationen und Vorträgen der Frage nach Kultur und Identität im modernen Israel nach. Sie ist Mitherausgeberin von Jewish Topographies: Visions of Space – Traditions of Place (Ashgate, 2008).
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