Europäischer Boulevard

Der Sinn einer Brücke ist das andere Ufer, das man erreicht. Nicht bei der Galatabrücke – sie lädt seit je zum Verweilen ein

Zur Eröffnung spielte die Kapelle des städtischen Altenheims, es wurde auf Türkisch und zur Sicherheit auch auf Arabisch gebetet, man durchschnitt ein mit Lorbeerblättern geschmücktes Band und opferte gleich zwei Schafe – fühlten die Vertreter der Stadt, dort auf dem Eminönü-Platz, wohl, dass sie an diesem 27. April 1912 so viel mehr als eine neue Brücke dem Verkehr übergaben?

Sicher, in Istanbul drängen sich die Symbole und Sinnbilder auf wie anderenorts Leuchtreklamen und Litfasssäulen – aber wollte man nur ein Bauwerk wählen, um das Leben in der Stadt zu beschreiben, dann müsste es wohl diese Brücke über das Goldene Horn sein. Sie hat viele Gestalten angenommen, sie wurde abgetragen und wieder aufgebaut, immer aber verband sie das alte mit dem neuen Istanbul, Stambul mit Pera, den Palast der Sultane mit dem Viertel der Diplomaten. Eigentlich ist die Galata- und nicht die Bosporusbrücke das in Stein gegossene Klischee von der Nahtstelle zwischen Abend- und Morgenland.

Heute allerdings ist ihr das nicht anzusehen. Das neue Ungetüm aus massivem Beton mit blauen Stahltürmen ist seit seiner Eröffnung 1992 ein gern beschimpfter Schandfleck der Stadt. Was lässt sich von dieser Brücke schon sagen? Sie ist 484 Meter lang und 42 Meter breit. Sie ruht auf zwei Meter dicken Stahlpfeilern und gilt als erdbebensicher. Es handelt sich um eine Doppelkammerkonstruktion, das heißt, ihr Mittelteil kann für passierende Schiffe geöffnet werden. Wie der Bau von 1912 ist sie eine türkisch-deutsche Koproduktion und hat ein Untergeschoss für Restaurants und Läden. Doch dazu später. Erzählen wir lieber von den goldenen Zeiten am Goldenen Horn.

Brücken über den hinteren Teil des Meeresarms gibt es seit dem sechsten Jahrhundert, keine aber umgab jemals diese Aura der Verbindung zwischen der Altstadt mit dem Sultanspalast und dem europäisch geprägten Kaufmannsviertel unterhalb des Galataturms. Sogar Leonardo da Vinci und Michelangelo reichen Skizzen ein, als sie von den Plänen des Sultans hören. Da Vinci schreibt im Juli 1503 einen Brief an Beyazit II., preist seine „gottgegebenen“ Talente als Konstrukteur und empfiehlt sich dem Sultan als „untertänigster Diener“. Der aber lädt stattdessen 1504 Michelangelo nach Istanbul ein. Allerdings hat dieser panische Angst, der Sultan könne von ihm „den Übertritt zum mohammedanischen Glauben“ fordern, und als dann der Papst auch noch mit Exkommunikation droht, wird die Reise in letzter Minute abgeblasen.

Erst mehr als 300 Jahre später ist es so weit: Sultan Abdülmecid plant den Umzug aus dem orientalischen und damit seiner Ansicht nach hoffnungslos veralteten Topkapı-Serail in den Dolmabahçe-Palast am Bosporus, jenes Pseudo-Versailles, das die Europa-Tauglichkeit des Osmanischen Reiches unterstreichen soll. Um bequemer zu seiner Baustelle zu gelangen, gibt er eine Holzbrücke in Auftrag, die im November 1845 eröffnet wird.

Drei Tage lang darf das Volk sie kostenlos benutzen, dann wird ein Brückenzoll erhoben. Und mit der steten Erhöhung des Passiergelds wächst der Ärger über die Kontrolleure. Deren arrogantes und unerbittliches Auftreten ist jahrzehntelang Stadtgespräch; die Zeitungen sind voll von Leserbriefen und Karikaturen geschundener Passanten („Was ist denn mit dir passiert?“ – „Ich musste gestern Abend über die Brücke“), und Schneider machen Werbung mit besonders reißfesten Anzugkragen, die sogar den Handgreiflichkeiten der Ordner standhalten würden. Immer mehr Prügeleien und Verfolgungsjagden gibt es zwischen den Aufpassern und zahlungsunwilligen Passanten – bis im Jahr 1930 die Gebühr abgeschafft wird.

Istanbuls Bevölkerung wächst und wächst, und 1863 muss die erste Brücke durch eine neue aus Holz ersetzt werden, die wiederum 1877 gegen eine moderne Konstruktion mit Eisen ausgetauscht wird. „Wer eine Stunde dort steht“, schreibt der italienische Reiseschriftsteller Edmondo De Amicis beeindruckt, „könnte meinen, ganz Istanbul habe die Brücke passiert.“ Man solle sich daher unbedingt auf einen bestimmten Punkt konzentrieren. „Wer hierhin und dorthin blickt, sieht nichts, und sein Geist verwirrt sich.“ Und was gebe es nicht alles zu beobachten: Türken aller Klassen, armenische Damen, Französinnen mit Schirm und Iraner im Pelz, Beduinen, Griechen, chinesische Mütter, katholische Geistliche, afrikanische Sklaven und schwatzhafte Wahrsager. Malteser, Tunesier, Bulgaren, zu Fuß, zu Pferd, in der Kutsche und auf dem Kamel. „Wer das Schönste und das Furchterregendste sucht, dessen kühnste Erwartungen werden hier noch übertroffen: Raffael würde in Ohnmacht fallen, Rembrandt sich die Haare raufen.“


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mare No. 46

No. 46Oktober / November 2004

Von Iris Alanyali und Emine Sevgi Özdamar

Wenn Iris Alanyalis Vater von ihrem wilden Studentenleben erzählt, spielt die Galatabrücke immer eine Rolle. In ihrem Buch Gebrauchsanweisung für die Türkei, erschienen in diesem Jahr bei Piper, erklärt sie, wie man sich nicht nur in Istanbul wie zu Hause fühlt. Die Autorin lebt in Berlin.

Die Schriftstellerin und Schauspielerin Emine Sevgi Özdamar wurde mit zahlreichen Auszeichnungen für ihr schriftstellerisches Werk geehrt – darunter der Ingeborg-Bachmann-Preis und der Kleist-Preis. Özdamar lebt in Berlin.

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Vita Wenn Iris Alanyalis Vater von ihrem wilden Studentenleben erzählt, spielt die Galatabrücke immer eine Rolle. In ihrem Buch Gebrauchsanweisung für die Türkei, erschienen in diesem Jahr bei Piper, erklärt sie, wie man sich nicht nur in Istanbul wie zu Hause fühlt. Die Autorin lebt in Berlin.

Die Schriftstellerin und Schauspielerin Emine Sevgi Özdamar wurde mit zahlreichen Auszeichnungen für ihr schriftstellerisches Werk geehrt – darunter der Ingeborg-Bachmann-Preis und der Kleist-Preis. Özdamar lebt in Berlin.
Person Von Iris Alanyali und Emine Sevgi Özdamar
Vita Wenn Iris Alanyalis Vater von ihrem wilden Studentenleben erzählt, spielt die Galatabrücke immer eine Rolle. In ihrem Buch Gebrauchsanweisung für die Türkei, erschienen in diesem Jahr bei Piper, erklärt sie, wie man sich nicht nur in Istanbul wie zu Hause fühlt. Die Autorin lebt in Berlin.

Die Schriftstellerin und Schauspielerin Emine Sevgi Özdamar wurde mit zahlreichen Auszeichnungen für ihr schriftstellerisches Werk geehrt – darunter der Ingeborg-Bachmann-Preis und der Kleist-Preis. Özdamar lebt in Berlin.
Person Von Iris Alanyali und Emine Sevgi Özdamar