Essen oder gegessen werden

Kannibalismus unter Schiffbrüchigen kam häufig vor

Zu sagen, es sei dann und wann mal vorgekommen, ist eine glatte Untertreibung. Nein, die Dinge, um die es hier geht, sind sehr oft geschehen. Zur Zeit der Segelschifffahrt, wenn Schiffbrüchige tagelang in einem Boot auf dem Meer trieben, halb wahnsinnig vor Durst und Hunger, war Kannibalismus an der Tagesordnung. Man wusste es auf den Schiffen, und man wusste es in den Häfen. Es war das Gesetz der See. Die, die zurückkamen, machten kein Hehl daraus, dass sie Menschen gegessen hatten. Man hielt sie für Helden, für Sieger im Überlebenskampf, was sollten sie da schweigen? Fälle gibt es genug, mehr als einem lieb ist.

Im Dezember 1710 lief die „Nottingham Galley“, vom Eigner absichtlich zu hoch versichert, vor der Küste von Maine auf Grund. Der Schiffszimmermann, nach den übereinstimmenden Berichten zweier Überlebender „ein fetter Kerl“, starb, ohne dass jemand Hand angelegt hätte – er kam auf die Speisekarte. Vor der westafrikanischen Küste lief im Juli 1816 die „Méduse“ auf Grund, ein großer Teil der Mannschaft rettete sich auf ein Floß, auf dem unter den 120 Mann ein grausames Gemetzel entbrannte, das tagelang anhielt. 15 überlebten, viele der Getöteten wurden verspeist.

Als ein Pottwal 1820 die „Essex“ durch einen Rammstoß versenkte, trieb die Besatzung in Booten 90 Tage durch die Südsee. Wer verzehrt werden sollte und wer sein Henker war, wurde ausgelost. Owen Chase überlebte und schrieb ein Buch, das Herman Melville zum letzten Kapitel des „Moby Dick“ anregte.

Im Jahre 1822 lief vor Quebec der Holzfrachter „George“ voll Wasser. Fast 60 Tage klammerten sich die Überlebenden an das Wrack, sechs Menschen wurden gegessen, unter ihnen Joyce Rae. Der Volksmund besang in einer Ballade, wie ihr Körper seziert und, in Stücke zerlegt, der ganzen Mannschaft vorgesetzt wurde:

„Her body then they did dissect,
Most dreadful for to view,
And serv’d it out in pieces
Amongst the whole ship’s crew.“

Außergewöhnlich brutal ist der Fall der „Francis Spaight“, die 1835 im Nordatlantik kenterte. Kapitän Timothy Gorman ließ das Los bestimmen, wer von seinen vier Schiffsjungen als Erster dran sei. Es traf Patrick O’Brien, 14 Jahre alt und erblindet. Es gab keinen Prozess, noch war das Meer ein rechtsfreier Raum.

Der Jurist Brian Simpson hat eine Reihe von Fällen des Seenot-Kannibalismus in seinem 1984 erschienenen Buch „The Story of the Tragic Last Voyage of the ,Mignonette‘“ dokumentiert. Sie haben vieles gemein. Gewöhnlich schreitet der Kapitän, „master next to god“, zur Sache. Das Ziehen des Loses ist eine Farce, in den meisten Fällen steht das Opfer schon vorher fest: Kranke, Geschwächte, Verletzte oder die Untersten in der Hierarchie. Um kein kostbares Blut zu vergießen, wird das Opfer totgetrampelt oder erschlagen. Wer das Sagen hat, trinkt als Erster.

Zumindest ein Fall aber kam vor Gericht. Im Juli 1884 sank die „Mignonette“ im Südatlantik. Die vierköpfige Besatzung rettete sich in ein Boot: Kapitän Dudley, die Seeleute Stephens und Brooks sowie der Schiffsjunge Parker, 17 Jahre alt. Parker trank Seewasser, wand sich in Krämpfen und fiel in einen Dämmerzustand. Am 20. Tag drängte Dudley darauf, Parker zu töten, der habe ja keine Familie. Stephens willigte ein, Brooks zögerte, gab dann nach.

Die drei Überlebenden machten sich keine Mühe, die Tat zu vertuschen. Das Protokoll der Gerichtsverhandlung in Falmouth zitiert Kapitän Dudley, wie er unbeholfen und rührend vom letzten Gespräch mit dem Jungen berichtet: „I then said no Dick your time has come poor boy murmered out what me sir and I said yes my boy but he did not move.“ Angeblich hatte Dudley das Los bestimmen lassen, verwickelte sich aber in Widersprüche. Das Urteil lautete: Geldstrafen zur Bewährung. Immerhin: Der Richter akzeptierte, dass man töten dürfe, um zu überleben.

Das Innenministerium in London ließ den Spruch kassieren. In Exeter standen Dudley und Stephens, diesmal ohne Brooks, erneut vor Gericht. Sir Coleridge, Lord Chief Justice von England, fällte das Urteil: Todesstrafe. Doch Queen Victoria begnadigte Dudley und Stephens zu je sechs Monaten Gefängnis. Der Prozess ist heute fast vergessen. Historisch gesehen, war er nur eine Etappe in dem langen Bemühen, an Land geltende Gesetze auf die Meere auszudehnen. Soviel zum Recht.

Und welches Urteil fällten die Praktiker des Kannibalismus? Ihr einmütiges Urteil zieht sich wie ein roter Faden durch die einschlägigen Berichte: „As good as any beefsteak!“

mare No. 17

No. 17Dezember 1999 / Januar 2000

Von Henning Sietz

Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg.

Ein Bericht über den Untergang der „Medusa“ erschien in mare No. 16, über die Entstehung von Melvilles Moby Dick in mare No. 15

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Vita Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg.

Ein Bericht über den Untergang der „Medusa“ erschien in mare No. 16, über die Entstehung von Melvilles Moby Dick in mare No. 15
Person Von Henning Sietz
Vita Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg.

Ein Bericht über den Untergang der „Medusa“ erschien in mare No. 16, über die Entstehung von Melvilles Moby Dick in mare No. 15
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