Eskapismus in Canvas

Klassisches Gepäck der Seeleute und manchmal modisches Statement: eine kleine philosophische Kulturgeschichte des Seesacks

Es gibt Wörter, die müssen nur ausgesprochen werden, um schlagartig Aufbruchsstimmung zu verbreiten. Nicht wenige davon sind maritimer Natur: Meeresrauschen, Wellengang, Brandung, Schiffspassage. Schon ihr Klang, wohlig-elegant und zugleich beflügelnd, lässt den Geist auf Reisen gehen, versetzt die Sinne beinahe zwangsläufig an Küs­ten oder auf Ozeane und erinnert nebenbei sogar noch an eine bestimmte Art des Unterwegsseins auf den Meeren – vornehm, kühn oder entschleunigt.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des Seesacks, wenngleich seiner Bezeichnung nicht unbedingt die größte klangliche Eleganz innewohnt. Auch die wohl simpelste Variante des Gepäckstücks vermittelt augenblicklich ein Gefühl von Abreise, das Bild eines spontanen, womöglich ungewissen Fortgehens, und lädt so die Fantasie auf ein Abenteuer ein, ja auf eine Robinsonade – denn abseits seiner betörenden Einfachheit ist der Seesack naturgemäß und unweigerlich mit Matrosen und Schiffsreisen verbunden.

Seine Geschichte und damit sein Streifzug durch die Welt – im wahrsten Sinn – begann im 17. Jahrhundert, als Seeleute ihre Habseligkeiten noch in recht minderwertigen und wasserdurchlässigen Taschen transportierten. Auf den Meeren wurden diese meist mit Segeltuch geflickt, das wiederum robust und wasserdicht war und damals ausschließlich in der flandrischen Stadt Duffel produziert wurde. Ab dem darauffolgenden Jahrhundert fertigten die dortigen Tuchmacher auch Taschen aus resistenteren Materialien wie dicke Wolle, Leinen oder Leder an, Sattelgurte dienten als Trageriemen, die Schnürösen wurden aus Messing gegossen; noch heute zeugt der englische Ausdruck für den Seesack und andere Taschen in seiner typischen Zylinderform von der einst exklusiven Herkunft: duffel bag.

Spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich der Duffel’sche Beutel als präferiertes Gepäckstück unter Matrosen durch, denn er bot zwei weitere entscheidende Vorteile: sein geringes Eigengewicht im Verhältnis zum Packvolumen und seine Flexibilität, durch die er selbst in kleinste Hohlräume gestopft werden konnte. Allerorten wurde er in Hafen- und Handelsstädten feilgeboten, zum Erwerb oder zur Leihe, der Begriff „Seesack“ wurde jedoch erst im 20. Jahrhundert geläufig. Irgendwann erhielt er standardmäßig breitere Tragegurte, sodass mehr Gewicht transportiert werden konnte, wodurch er auch Teil einer militärischen Grundausrüstung wurde – und das bis heute. 

So wie der Koffer auf die Seemannskiste zurückgeht, basiert der moderne Rucksack auf dem Seesack (mare No. 77); Letzterer erfreut sich dieser Tage auch immer größerer Beliebtheit als Modeaccessoire. Was aber ist das Besondere an diesen zusammengenähten Stofffetzen, diesem frugalsten aller Trageutensi­lien? Worin liegt seine – verzeihen Sie das Pathos – Seele?

Der Seesack ist der Inbegriff des Eskapismus. In ihm gipfelt die Möglichkeit, innerhalb kürzester Zeit aufzubrechen und in die Welt zu ziehen. Der Drang zur Flucht muss dabei nicht trauriger Art sein, sondern kann auch ein Vehikel für eine nimmermüde Entdeckungslust und ein grenzenloses Fernweh darstellen, denen, so oft es geht, nachgegangen werden muss – und für die der Seesack der perfekte Begleiter ist. Seine Eigenschaft, einfach und schnell bepackt werden zu können, rührt zwar ursprünglich allein von den üblichen Notwendigkeiten unter Seeleuten her, etwa bei einer kurzfristigen Abfahrt oder Heuer. In seinem maritimen Ursprung wurzeln damit aber gleich zwei Facetten des Fluchtmotivs: Zum einen ist der Seesack wie ein grober Wollpulli oder ein gestreiftes Matrosenshirt stilistisch unverkennbar mit dem Meer und dadurch mit der grenzenlosen Freiheit der Ozeane verknüpft. Zum anderen versinnbildlicht der Seesack durch seine unkomplizierte Handhabe wie kaum ein anderer Gegenstand Aufbruch und Offenheit zum Abenteuer, auch abseits der See. Sein Charakter liegt in seinem Versprechen: Ein Seesack ist stets innerhalb weniger Momente aus der Schublade gezogen, gepackt und geschultert – und sein Träger somit bereit zur Abreise, gerüstet für neue Ufer.


Brillant illustriert wird genau diese Situation von einem der bekanntesten Seebären aller Zeiten, Kapitän Haddock aus den „Tim und Struppi“-Comics, der im Band „Die sieben Kristall­kugeln“ gemeinsam mit seinen beiden Weggefährten verzweifelt auf Informationen wartet, nachdem ihr guter Freund Professor Bienlein entführt wurde. Als er endlich eine Meldung per Telefon erhält, dauert es nur einen Wimpernschlag, bis er seinen vollgepackten Seesack parat hat und zur Rettung losstürzt – und das, wo er unlängst in ein Schloss ­ge­zogen ist und sicherlich luxuriösere Gepäckoptionen hat. Selbstverständlich spielt in diesem Beispiel Haddocks persönliche Beziehung zum Seesack eine Rolle; es zeigt jedoch ebenso, wie dessen universeller Nutzen selbst dann nicht entbehrlich wird, wenn man sich Besseres leisten kann – hunderttausend heulende Höllenhunde, wie der Kapitän sagen würde.

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 171. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 171

mare No. 171August / September 2025

Von Stephan Sura

Stephan Sura, Jahrgang 1986, ist freier Autor aus Köln. Vor einiger Zeit kaufte er sich selbst einen Seesack, ein schlichtes Exemplar ganz aus Baumwolle, dessen Trageriemen ab einem bestimmten Gewicht nur leider ziemlich in die Schultern schneiden. Trotzdem benutzt er ihn fast täglich – gerade, wenn es schnell ­gehen muss.

Mehr Informationen
Lieferstatus Lieferbar
Vita Stephan Sura, Jahrgang 1986, ist freier Autor aus Köln. Vor einiger Zeit kaufte er sich selbst einen Seesack, ein schlichtes Exemplar ganz aus Baumwolle, dessen Trageriemen ab einem bestimmten Gewicht nur leider ziemlich in die Schultern schneiden. Trotzdem benutzt er ihn fast täglich – gerade, wenn es schnell ­gehen muss.
Person Von Stephan Sura
Lieferstatus Lieferbar
Vita Stephan Sura, Jahrgang 1986, ist freier Autor aus Köln. Vor einiger Zeit kaufte er sich selbst einen Seesack, ein schlichtes Exemplar ganz aus Baumwolle, dessen Trageriemen ab einem bestimmten Gewicht nur leider ziemlich in die Schultern schneiden. Trotzdem benutzt er ihn fast täglich – gerade, wenn es schnell ­gehen muss.
Person Von Stephan Sura
Suchmaschine unterstützt von ElasticSuite