Es war in einem fernen Land

Ein junger Tscheche flieht 1914 vor dem Militärdienst in Habsburger Uniform in die Wildnis von Labrador

Es ist der Sommer des Jahres 1914, Jener letzte vor Europas erster Apokalypse. In Sarajevo stirbt der Habsburger Thronfolger bei einem Attentat, bald darauf wird die europäische Diplomatie kollabieren und wenig später der gesamte Kontinent.

Dort mag mancher das kommende Ende ahnen. Einer weiß sicher darum, allerdings um sein eigenes: Jiří Jaeger. Im Bauch eines englischen Schiffes namens „Harmony“ kotzt sich der 15-jährige Tscheche die Seele aus dem Leib. Der Dreimaster ist unterwegs nach Labrador, doch Jaeger sieht sich bereits angekommen: in einer ewig schaukelnden Hölle, deren Teufel ein launenhafter Steward ist, ausgesetzt den Torturen der Wellen und dem versalzenen Proviant.

Dabei glaubte er sich doch entwischt. Den schwarzen Wäldern Böhmens, dem dräuenden Militärdienst in Habsburger Uniform, der stellungslosen Zukunft. Hatte sogar noch gefeixt, als er seinen Pass mit der Erlaubnis zur Ausreise gen Amerika in der Hand hielt. „Der Kaiser und ganz Österreich-Ungarn können mir den Buckel runterrutschen“, hatte er dem Konsulatsbeamten entgegengeschleudert, jenem Widerling, der ihn einen Deserteur hieß. Wie gern stünde er jetzt auf einem Exerzierplatz – schwitzend zwar, verstaubt, doch sicher auf festem Grund.

Stattdessen dieser Elendssegler, unterwegs in göttlicher Mission zwischen Alter und Neuer Welt. Sein Eigner ist die Mährische Kirche, eine evangelische Freikirche im Tschechischen. Die „Harmony“ versorgt ihre Stationen entlang den Küsten Neufundlands und Labradors, eine Londoner Handelsgesellschaft regelt für die Brüder Versorgung und Passagen. In jener Firma findet Jaeger eine Anstellung als Lagerassistent, sein erster Arbeitsplatz soll Labrador sein.

Die Halbinsel ist das vergessene Land Kanadas. Ein rauer Ort der kurzen Sommer und langen Winter, der unbeugsamen Bäume und Siedler – Fischer und Walfänger sind es, seit Jahrhunderten treibt es sie aus Europa in die Wildnis dieser Küsten und Gewässer, dem hier schwimmenden Reichtum hinterher. Grande Nation und Empire bekriegen sich um die kalte Kolonie, jahrzehntelang, nach dem Pariser Frieden von 1763 müssen die Franzosen ihre nordamerikanischen Besitztümer an die Briten abtreten.

Die Siedler teilen sich das Land mit den Ureinwohnern – Indianern – und mit den aus Grönland und arktischen Breiten eingewanderten Inuit. Jaeger kennt die Immigranten, denen die indianischen Ureinwohner den Namen Eskimo, „Rohfleischesser“, geben, so gut wie jede andere Attraktion auf dem heimischen Rummelplatz: Die seinerzeit so beliebten wie heute berüchtigten „Völkerschauen“, die „anthropologischen Gastspielreisen der Circusse“ hatten immer auch den „Eskimo“ im Angebot, echt nur mit Pelz und Harpune, und manchmal im Duett mit den „wilden Menschenfressern“ an ihren „Negertrommeln“.

Vielleicht ist es die Scham über derlei Kulturverständnis, die Jaeger in den sechs Jahren seines Aufenthalts auf Labrador zum genauen Beobachter der Lebensumstände dieses Volkes macht. Vielleicht ist es ihr so karger wie unerhörter Alltag, der ihn fesselt und über den er aufklären will mit Stift und Kamera, die er, kaum dass er den Fuß wieder auf Festland gesetzt hat, kaum von der Seekrankheit genesen, einen Berg hinaufschleppt – sein erstes Foto jenes Landes, das er bald in „seiner Stille, seiner Ruhe, mit seiner düsteren Schönheit und seinen Eskimobewohnern“ lieben lernen wird.

Doch jetzt, kurz nach der Ankunft, muss er sich erst einmal einleben. Muss sich vertraut machen mit den Erfordernissen eines Gemischtwarenladens am anderen Ende der Welt. Die Station heißt Okak; ein paar Missionare, Siedler und rund 300 Inuit bewohnen sie. Der Laden ist das Zentrum, unter der Decke hängen getrocknete Dorsche neben Stoffballen, liegen Gewehre neben Nadeln und Knöpfen. Tüten gibt es nicht, doch die Inuit behelfen sich: Sie ziehen ihre Jacken aus, in den linken Ärmel kommt der Tee, in den rechten das Schießpulver. Den restlichen Teil füllt der Schiffszwieback. Ist auch der nicht genug, müssen die Handschuhe und Mützen herhalten.

Winters herrschen um die 20 Minusgrade im Geschäft, aus Sicherheitsgründen darf kein Ofen installiert werden. Schreibt Jaeger in die Verkaufskladden, streift er sich für Minuten die steifen Lederhandschuhe ab. Danach rennt er nach Hause, um die fast erfrorenen Hände mit Schnee abzureiben und am heimischen Herd wieder zu beleben. Aber Jaeger taut immer wieder auf, äußerlich und irgendwann auch im Inneren – das Herz, das ihm nach seiner Ankunft gefroren war „vor Kälte und Fremdheit“, akklimatisiert sich. Jaeger findet Muße, sich umzuschauen.


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mare No. 41

No. 41Dezember 2003 / Januar 2004

Von Maik Brandenburg und Jiří Jaeger

Autor Maik Brandenburg ist mare-Redakteur für Politik und Gesellschaft.

mare dankt Herrn Michal Šíp, Mitarbeiter des Nationalparks Bayerischer Wald, durch dessen Engagement dieser Beitrag erst möglich geworden ist. Ein befreundeter Antiquitätenhändler in Prag hatte ihm seinerzeit von dem Ankauf des Jaegerschen Nachlasses berichtet. Die Zitate bei den Bildern stammen aus Jiří Jaegers auf Tschechisch erschienenem Buch Sechs Jahre unter Eskimos, Orbis Verlag, Prag, 1963.

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