Die Kisten mit der wertvollen Fracht waren mit Wachstuch eingeschlagen, für den Fall, dass sie beim Verladen nass wurden, und vermutlich standen sie meist irgendwo in der hintersten Ecke des Laderaums. Also wurden zuerst die Säcke mit Kartoffeln und Zwiebeln ausgeladen, dann Mehl und Salz und Zucker, dann die anderen Lebensmittel. Der insgeheim am sehnsüchtigsten erwartete Teil der Fracht kam erst am Ende und wog oft so viel, dass zwei Personen ihn hinüber zum Leuchtturm tragen mussten. Bücher haben Gewicht. Und eine stabile, bronzebeschlagene Eichenholzkiste voller Romane, Sachbücher und Lexika wiegt eine ganze Menge. Die Leuchtturmbewohner werden den Männern auf dem Versorgungsschiff zum Abschied gewunken und anschließend zuerst sämtliche Vorräte verstaut haben. Wenn alles erledigt war, folgte der große Moment: Die Kiste wurde geöffnet. Wahrscheinlich muss man sich das ein wenig wie die Bescherung an Weihnachten vorstellen.
Über einen Zeitraum von 40 Jahren, von 1880 bis etwa 1920, wurden die meisten Leuchttürme in der englischsprachigen Welt regelmäßig und kostenlos mit Bücherkisten ausgestattet. Öffentliche Büchereien in den nächstgelegenen Hafenstädten stellten diese kleinen Sammlungen zusammen. Kisten mit gelesenen Büchern gaben die Leuchtturmwärter an die Versorgungsschiffe zurück, die sie wiederum zu anderen Leuchttürmen brachten. Der Aufdruck auf den Kisten lautete schlicht „Library Box“. In die Geschichte ging das Programm jedoch unter dem Namen „Carnegie’s Book Boxes“ ein.
Carnegie? Der mit der Carnegie Hall? Genau der. Andrew Carnegie, geboren 1835 in Dunfermline, Schottland, gestorben 1919 in Lenox, Massachusetts. Jener Carnegie, der mit seinen Stahlwerken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem der reichsten Männer der USA geworden war. Der Carnegie, der – wie seine Zeitgenossen John D. Rockefeller und Cornelius Vanderbilt – beträchtliche Teile seines Vermögens gemeinnützigen Projekten zur Verfügung stellte. Und der in einem Essay mit dem Titel „Das Evangelium des Reichtums“ schrieb: „Der Mann, der reich stirbt, stirbt in Schande.“
Nach heutiger Kaufkraft besaß der Stahltycoon auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Macht ein Vermögen von geschätzt 372 Milliarden US-Dollar – in den letzten Jahren seines Lebens sollte er fast 90 Prozent davon stiften oder spenden. Nachdem er sein Unternehmen im Alter von 65 Jahren verkauft hatte, konzentrierte sich Carnegie ganz auf philanthropische Aktivitäten. Mit den Carnegie Hero Trust Funds griff er Rettungskräften finanziell unter die Arme, die sich bei Unglücken oder Naturkatastrophen verletzt hatten. Mit einer anderen Stiftung, dem Endowment for International Peace, förderte Carnegie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die internationale Friedensarbeit. Der Mäzen unterstützte Universitäten, Museen und Theater, vergab Stipendien, förderte Talente. Und er ließ öffentliche Bibliotheken bauen, viele Bibliotheken – am Ende seines Lebens waren es mehr als 2500. Die Bücherkisten für die Leuchtturmwärter? Waren eigentlich bloß eine kleine Erweiterung dieses Mäzenatentums. Und doch so wichtig für all die Männer, die an Küsten und auf Inseln für die Sicherheit des internationalen Schiffsverkehrs sorgten.
Der Job der lighthouse keepers war Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts meist ein sehr einsamer. Vor allem in den USA und Kanada, aber auch in Irland und Schottland standen viele an Orten, die von Land aus nur schwer zu erreichen waren – oder manchmal überhaupt nicht. Etliche Leuchttürme wurden auf vorgelagerten Inseln errichtet, einige auf winzigen Felsen draußen im Meer. Verheiratete Wärter nahmen meist ihre Familien mit an diesen abgeschiedenen Arbeitsplatz. Leuchttürme, in denen alleinstehende Männer abgeschnitten von sämtlichen sozialen Kontakten und den Annehmlichkeiten des städtischen Lebens ihren Dienst versahen, wurden in der englischsprachigen Welt stag lights genannt. Viele dieser stags, Junggesellen, litten mit der Zeit an Langeweile, Einsamkeit und Depressionen. Carnegies Bücherboxen halfen da ein wenig. Manchmal halfen sie wahrscheinlich ziemlich viel.
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Stefan Nink, Jahrgang 1965, Autor in Mainz, entdeckte eine von Carnegies Bücherkisten, als er in einem nordirischen Leuchtturm übernachtete und nicht schlafen konnte. Der Inhalt war passend: Neben vielen Prospekten fand sich darin ein Buch mit Geistergeschichten aus der Region.
| Lieferstatus | Lieferbar |
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| Vita | Stefan Nink, Jahrgang 1965, Autor in Mainz, entdeckte eine von Carnegies Bücherkisten, als er in einem nordirischen Leuchtturm übernachtete und nicht schlafen konnte. Der Inhalt war passend: Neben vielen Prospekten fand sich darin ein Buch mit Geistergeschichten aus der Region. |
| Person | Von Stefan Nink |
| Lieferstatus | Lieferbar |
| Vita | Stefan Nink, Jahrgang 1965, Autor in Mainz, entdeckte eine von Carnegies Bücherkisten, als er in einem nordirischen Leuchtturm übernachtete und nicht schlafen konnte. Der Inhalt war passend: Neben vielen Prospekten fand sich darin ein Buch mit Geistergeschichten aus der Region. |
| Person | Von Stefan Nink |