Erinnerung, sprich

Neblige Fjorde, todesmutige Fischer: eine Begegnung mit der Zeit, als Norwegen ein von den Nazis besetztes Land war

Bekanntlich sieht man nur, was man weiß. Und selbst dann … Das Dorf liegt in nachmittäglichem Frieden, irgendwo in einem Garten surrt eine Kreissäge, verstummt dann wieder. Sonnenlicht und Schatten wandern die Wände der leuchtend weiß, gelb oder rot gestrichenen Holzhäuser entlang, je nachdem, auf welcher Seite des schmalen Fjords sie sich befinden, an den grünen Hängen oder direkt am Wasser unten im Tal. Kaum wahrnehmbare Ausläufer von Wellen schwappen gegen das Fundament des Bootshauses und kämmen die Fasern abgelagerter Moosflechten von einer Seite zur anderen. Über einem Pfad, der am Wasser endet, kreisen und kreischen die Möwen. Von hier nach Sachsenhausen, die Männer in einer Reihe, Frauen und Kinder oben ins Jugendhaus gesperrt, die ganz Alten ins Bootshaus gepfercht.

Im Sommer, wenn die Touristen kommen, die Camper und Freizeitfischer vor allem aus Deutschland, wird in Telavåg dann mehr Leben sein, werden viele der rund 700 Einheimischen zu Vermietern und Bootsverleihern – und wer weiß, vielleicht wird der eine oder andere die Gäste auch auf das Haus da oben auf der Felsklippe hinweisen, auf das Museum, mit der gläsernen, von Holz und Beton eingerahmten Fassade.

Gäbe es das 1998 eingeweihte Nordsjofartmuseet nicht, es wäre da noch immer die Erinnerung an die dunkelsten Tage von Telavåg, als vom Meer her, südlich aus Richtung Bergen, SS und Gestapo kamen, um Dynamit in die Häuser zu werfen und das Dorf dem Erdboden gleichzumachen. Die Erinnerung an das Jahr 1942 bliebe präsent, aber wer würde sie weitergeben, gäbe es nicht das Museum, mit seinem lichtdurchfluteten Hauptsaal, wo man sich hinsetzen kann, die von jahrzehntelanger Fischerarbeit geröteten Hände auf die Tischplatte gelegt, die Augen kurz geschlossen, um alles vor dem Erzählen noch einmal zu strukturieren, denn selbstverständlich sind die Alten von Telavåg keine von denen, die sich, Pfeife im Mundwinkel, nur mal so über den Gartenzaun beugen und grummelnd Apokryphes absondern würden.

„Ich war 15 Jahre alt in diesem Jahr“, sagt Morten Telle, der hoch gewachsene Mann mit dem weißen Schopf, dem karierten Hemd unter seinem Pullover mit dem akkuraten V-Ausschnitt. „Am Donnerstag, den 30. April, kamen die Boote, frühmorgens. Zwischen acht und neun gab es erste Verhaftungen. Als wir die Häuser verlassen mussten, hatten sie unsere Väter schon ausgesondert. Am Samstagmorgen gegen fünf ging es für uns mit unseren Müttern dann vom Jugendhaus direkt auf die Boote.“

„Und die Soldaten haben geschossen“, ergänzt Ingemund Midttveit, ein breitschultriger Pensionär, der damals sechs Jahre alt war. „Sie haben in die Luft geschossen, um uns Kindern Angst zu machen. Und als sie das Pferd sahen, haben sie voll draufgehalten.“

„Welches Pferd?“, fragt Morten, und es scheint nicht so, als frage er das nun schon seit Jahrzehnten in dieser Weise, als sei dieses Gespräch ein routiniertes Pingpong für Zugereiste. Trotzdem: „Ein Pferd habe ich nirgends gesehen.“ „Aber ja! Es war schön und stark, und als es ausschlug, unten am Pfad beim Bootshaus, haben die von der SS ihm in die Beine geschossen, aber es konnte, hinkend zwar, entkommen. Über die Hügel hinüber zur Küste nach Svanaboden, vielleicht.“ Wenigstens etwas, so scheint es, soll zur Anekdote werden, damit es sich drehen und wenden lässt, Variationen und Möglichkeiten ergibt statt der erdrückenden Endgültigkeit der Zahlen und Fakten.

1940 besetzten die Nazis mit 300000 Soldaten einschließlich SS- und Gestapo-Truppen das bis dahin neutrale Norwegen und installierten mit der berüchtigten Quisling-Regierung ein ihnen genehmes Kollaborateursregime. Schon kurz darauf aber machten sich junge Fischer aus den westlichen Küstendörfern und den Weilern längs der Fjorde zu den Shetland-Inseln auf, dem mit 180 Seemeilen Entfernung am nächsten gelegenen britischen Territorium. An Bord hatten sie gleichaltrige Freunde, mit denen zusammen sie sich für die im Exil neu gegründete norwegische Armee oder für die britische Navy melden wollten; wenig später schmuggelten sie im Schutz der Nacht auch Widerstandskämpfer aus dem Land, denen die Gestapo auf die Spur gekommen war.

Im Fall der beiden Aktivisten Arne Vaerum und Emil Gustav aber kam die Rettungsaktion zu spät. Informiert durch einen norwegischen Spitzel, tauchten am 26. April 1942 im bislang unbehelligten Dorf Telavåg sieben Gestapo-Männer auf, unter ihnen der lokale Geheimdienstchef aus Bergen mit seinem Stellvertreter. Unerwartet sterben jedoch die beiden hochrangigen Nazis beim nachfolgenden Schusswechsel mit den zwei Widerständlern – Grund genug für die Besatzer, vier Tage später am ganzen Dorf ein Exempel zu statuieren, Frauen, Kinder und Alte via Bergen in norwegische Lager zu bringen, die Männer nach Sachsenhausen zu deportieren und ein jedes der Holzhäuser in die Luft zu jagen mitsamt allem Mobiliar, Dokumenten, persönlichen Erinnerungen. Ingemund aber hat bis heute das verwundete Pferd im Gedächtnis gespeichert, und Morten erzählt von einer Tasse Kakao, die die verstörten, inzwischen auch von ihren Müttern getrennten Kinder nach zwei Tagen des Hungerns in Bergen schließlich aus den Händen einer Rotkreuzschwester erhielten. „Mein Vater“, sagt Morten dann leise am Schluss, „ist in Sachsenhausen geblieben.“


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mare No. 50

No. 50Juni / Juli 2005

Von Marko Martin

Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als Publizist in Berlin. Er war immer wieder aufs Neue überrascht von der Freundlichkeit und Gelassenheit der Leute gegenüber einem, der ja doch aus Deutschland kam. Kein Ressentiment, keinerlei Misstrauen, nirgends.

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Vita Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als Publizist in Berlin. Er war immer wieder aufs Neue überrascht von der Freundlichkeit und Gelassenheit der Leute gegenüber einem, der ja doch aus Deutschland kam. Kein Ressentiment, keinerlei Misstrauen, nirgends.
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