„Erforschung der Tiefsee als Ehrenpflicht“

1899: Die erste deutsche Tiefsee-Expedition kehrt zurück

Die Überzeugung, dass Deutschland sich der Ehrenpflicht, im Wettstreit mit anderen Kulturnationen an der Erforschung der Tiefsee sich zu beteiligen, nicht länger entziehen konnte, brach sich allmählich Bahn. Wollte es sich bei einer derartigen Forschungsreise nicht lediglich an die engere Interessenssphäre des heimischen und kolonialen Besitzes halten, wie dies bei manchen früheren Expeditionen anderer Nationen in Erscheinung trat, so war der Weg für eine deutsche Tiefsee-Expedition von vornherein gewissermaßen vorgezeichnet: Sie hatte in weitem Bogen Afrika zu umkreisen, den östlichen atlantischen Ocean zu erforschen, von dem Kap aus einen Vorstoß in die kalten, antarktischen Stromgebiete zu unternehmen, um schließlich der Erforschung des indischen Oceans ihre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Als der spätere Leiter der Expedition dem preußischen Kultusministerium seine anfänglich recht bescheidenen Absichten zu erkennen gab, wurde darauf hingewiesen, daß es angezeigt sei, den Rahmen etwas weiter zu fassen und die Hilfe des Reiches in Anspruch zu nehmen. Wenn schon allgemein der Überzeugung Ausdruck gegeben wurde, daß unser Kaiser bei seinem lebendigen und feinfühligen Interesse für alle derartigen Bestrebungen der Eingabe gegenüber sich wohlwollend verhalten werde, so darf wohl betont werden, daß die Erwartungen weit durch die Allerhöchste Anteilnahme überboten wurde. Seine Majestät unterzog das Gesuch einer eingehenden Prüfung und sprach die Erwartung aus, daß die Expedition in würdiger Weise ausgerüstet werde, ohne Rücksicht auf Ersparnisse, welche die Sicherheit und den Erfolg gefährden könnten.

Angesichts einer so hochherzigen Anteilnahme war es erklärlich, daß in überraschend schneller Folge die auf 300000 Mark veranschlagten Mittel in Bereitschaft gesetzt wurden.

Verschiedene industrielle Etablissements setzten es sich zur Ehre, die Expedition mit Instrumenten und Ausrüstungsgegenständen ohne Entgelt auszustatten, so vor allen Dingen das bekannte optische Institut der Firma Zeiß in Jena, welches uns mit Lupen, Mikroskopen und trefflich sich bewährenden photographischen Objektiven versah. Insbesondere sei der Mitwirkung der Hamburg-Amerika-Linie gedacht. Nachdem verschiedene Schiffe in Aussicht genommen waren, fiel die Wahl auf ihren Dampfer „Valdivia“, ein Fahrzeug, welches bisher den Dienst zwischen Hamburg und Westindien versehen hatte.

Die Abfahrt der Valdivia aus dem Hamburger Hafen um die Mitagszeit des sonntäglichen 31. Juli 1898 gestaltete sich zu einem festlichen Aufzuge. Von allen Seiten wurden Ausrufe der Bewunderung laut über das schmucke, große Schiff, das in seinem weißen Tropen-Anstrich langsam wie ein Schwan die Elbe hinunterglitt. Die Mannschaften der im Hafen liegenden Dampfer riefen ihr „Hipp, hipp, hurrah“ uns nach, die an den Quais und Ufern dichtgedrängte Menge wehte mit Tüchern, die Seewarte salutierte mit der Flagge, und auf Wiezels Hotel, in dem die Expeditionsmitglieder gemeinsam mit den von allen Seiten herbeigeeilten Fachgenossen gar manchen anregenden Abend verlebt hatten, strengten sich die Kellner mit ihren Servietten ganz besonders an.

Unsere wichtigsten Apparate repräsentierten die beiden Tiefsee-Lotmaschinen. Eine derselben, von Le Blanc in Paris konstruiert und auf den neueren Expeditionen des Fürsten von Monaco und der „Pola“ erprobt, wurde nun beschafft und mittschiffs auf Steuerbordseite aufgestellt. Die nach oben geführten Dampfrohrleitungen wurden mit einer kleinen Dampfmaschine verbunden, welche die beiden zur Aufnahme des Lotdrahtes dienenden Trommeln antrieb. Von seiten der Reichsmarineverwaltung wurde uns noch die nach dem amerikanischen System von Sigsbee konstruierte Lotmaschine leihweise überwiesen. Sie war mit einer Dynamomaschine versehen worden. Als Lotdraht verwendeten wir, wie bei allen derartigen Tiefsee-Lotmaschinen, Klaviersaitendraht von 0,9 mm Durchmesser, der eine garantierte Tragfähigkeit von 200 kg besaß und pro 1000 m nur 5 kg wog.

Südlich der Kapverden, Ende August, fuhr die „Valdivia“ in das Gebiet der Äquatorialströme und des Guineastroms vor Westafrika. Die Vertikalnetze lieferten aus dem Pelagium (tiefer als 800 Meter) „glanzvolle Ergebnisse“:

Zum ersten Male trat uns der Zauber der pelagischen Tiefseefauna entgegen mit einer wahren Überfülle neuer und durch ihre Organisation bemerkenswerter Typen. Hier gerieten zum ersten Mal in unsere Netze jene schwarzen Tiefseefische, welche durch ihre Ausrüstung mit Leuchtorganen und durch ihren bizarren Habitus seit jeher das Interesse der Forscher in besonderem Maße erregten. Zu ihnen gesellten sich große, blutrote Kruster, haselnußgroße Riesenformen von Muschelkrebsen, durchsichtige Tintenfische, mit rotem Darm ausgestattete Pfeilwürmer, violett gefärbte Medusen, duftige und ungemein zart gestaltete schwimmende Seewalzen, bisher noch nie beobachtete Tiefseeformen der Rippenquallen und eine Überfülle von Radiolarien mit ihren reizvollen Kieselskeletten. Man war in ständiger Erregung über diese ungeahnte Pracht bei dem Aufkommen der Netze; alle Hände hatten voll zu thun, um sie zu zeichnen und zu konservieren.

In der deutschen Kolonie Kamerun trafen die Expeditionsteilnehmer den Stammeshäuptling König Manga Bell, der den Besuch aus Deutschland beeindruckte: Er empfing uns als vollendeter Gentleman, bewirtete uns mit Champagner und schenkte mir als Gegengabe für das große Bild des Kaisers, das ich ihm überreichen ließ, einen Ziegenbock. Wohl schwerlich dürfte ein kameruner Wiederkäuer einen ähnlichen Umweg nach Deutschland gemacht haben und unter schwierigeren Verhältnissen seine Lebenszähigkeit bewiesen haben, als der „Bell-Bock“. Bis Kapstadt hatte er noch gute Tage, aber als es in die antarktische Region ging, flüchtete er in den Kesselraum, verbrannte sich bei den schweren Stürmen unzählige Male die Schenkel, verweigerte hartnäckig die an Stelle von Grünfutter gereichten Konserven, und nährte sich redlich von Zeitungen, Hobelspänen und Cigarrenstummeln. Da er auch ein Aktenstück auffraß, dürfte es sich vielleicht empfehlen, daß man höheren Ortes die Bestrebungen von King Bell in der Zucht so hervorragend nützlicher Ziegenböcke einer wohlwollenden Erwägung unterziehe.

Vom südafrikanischen Kapstadt aus schlug die „Valdivia“ südwestlichen Kurs ein. Es galt nun auch, eine seit einem Menschenalter verschollene Insel zu suchen: Südlich vom Kaplande dehnt sich ein weites Meer aus, das in oceanographischer Hinsicht unerforscht war. Gleich hinter der Agulhas-Bank brechen alle Lotungen ab und niemand konnte vorhersagen, welche Aufschlüsse eine in südlicher Richtung vordringende Expedition durch ihre Lotungen und sonstigen Untersuchungen gewinnen würde. Verfolgt man auf den britischen Seekarten die weite Fläche, so stößt man nur auf eine Angabe, die freilich auch wieder als unsicher bezeichnet wird. Unter dem 54. Breitengrad finden sich nämlich drei Inseln verzeichnet, welche als die Bouvet-Gruppe zusammengefaßt werden. Es reizte, zu der Lösung eines geographischen Problems einen Beitrag zu liefern, insofern hervorragende Forschungsreisende sich vergeblich bemühten, die Existenz des am 1. Januar 1739 von dem Nestor der antarktischen Forschung, Lozier Bouvet, unter dem 54. südlichen Breitengrad und 4°20’ ö. L. gesichteten „Cap de la Circoncision“ zu erweisen. Weder Cook (1775), noch James Roß (1843), noch Moore (1845) vermochten trotz aller hierauf verwendeten Mühe die „Bouvet-Insel“, als welche inzwischen das vermeintliche Vorgebirge eines Süd-Kontinents erkannt war, wieder aufzufinden. Immerhin hatten im Anfang des Jahrhunderts zwei Kapitäne von Walfischfängern – nämlich Lindsay (1808) und Norris (1825) – bestätigt, daß in der von Bouvet bezeichneten Region eine bzw. zwei Inseln liegen, deren Position sie freilich abweichend bestimmten. Neuerdings neigte man zu der Vermutung, daß die Inseln, deren Natur Norris ausdrücklich als vulkanisch bezeichnet, entweder der Abrasions-Tätigkeit (dem Abtragen der Küste durch die Brandung, d. Red.) des stürmischen Meeres oder einem vulkanischen Ausbruch zum Opfer gefallen sind.

So trafen wir denn am 24. November in der Höhe des 54. Breitengrades auf jene Region, in welcher die englischen Admiralitätskarten die Inseln verzeichnen. Ein schneidender, bald stürmischer Nord hatte das Verdeck mit Glatteis überzogen, und mehrmals sich einstellende Nebel erschwerten den Ausblick. Da indes die Sonne durchbrach, wurde die Hoffnung nicht aufgegeben, über das Schicksal der Inseln Aufschluß zu erhalten. Während in den letzten Tagen sehr ansehnliche Tiefen zwischen 4000 und 5000 m gelotet wurden, ergab eine am 23. November vorgenommene Lotung 3585 m und die am 24. ausgeführte nur 2268 m. Hierdurch war ein unterseeischer Rücken nachgewiesen, der vielleicht der Insel als Sockel dienen konnte. Am Nachmittag des 25. wurde es wieder etwas bewölkt und unsichtig. Nach den stürmischen Tagen und schlaflosen Nächten gab der Kapitän seinem Unmut über die unsicheren Bestimmungen der alten Seefahrer in kräftig seemännischer Weise Ausdruck. Wir waren beide der Ansicht, daß nur noch bis Sonnenuntergang die Suche nach den wie verzaubert erscheinenden Inseln mit westlichem Kurs fortgesetzt werden sollte, als 30 Minuten nach 3 Uhr unser erster Offizier mit dem Ausruf: „Die Bouvets liegen vor uns“ das ganze Schiff in Aufregung brachte. Alles stürmte nach vorn und auf die Brücke, und da lag denn in verschwommenen, bald deutlicher hervortretenden Konturen, nur 7 Seemeilen recht voraus, in seiner ganzen antarktischen Pracht und Wildheit ein steiles Eiland. Schroffe, hohe Abstürze gegen Norden, mächtige, bis zum Meeresspiegel abfallende Gletscher, ein gewaltiges Firnfeld, welches sanft geneigt mit einer Eismauer im Meere endet, die Kämme der Höhen in Wolken versteckt — das war der erste Eindruck, den wir von der seit 75 Jahren verschollenen und von drei Expeditionen vergeblich gesuchten Insel empfingen.


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mare No. 13

No. 13April / Mai 1999

Eine Dokumentation von Henning Sietz

Textauswahl: Henning Sietz

Fotos und Seekarte: Archiv Jürgen Trahms

Die Texte aus dem Expeditionsbericht von Carl Chun, Aus den Tiefen des Weltmeeres. Schilderungen von der Deutschen Tiefsee-Expedition, stammen aus der zweiten Auflage, Jena 1905, 592 Seiten. Das Zitat aus der Vossischen Zeitung, Berlin, ist der Ausgabe vom 1. Mai 1899 entnommen.

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Die Texte aus dem Expeditionsbericht von Carl Chun, Aus den Tiefen des Weltmeeres. Schilderungen von der Deutschen Tiefsee-Expedition, stammen aus der zweiten Auflage, Jena 1905, 592 Seiten. Das Zitat aus der Vossischen Zeitung, Berlin, ist der Ausgabe vom 1. Mai 1899 entnommen.
Person Eine Dokumentation von Henning Sietz
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Fotos und Seekarte: Archiv Jürgen Trahms

Die Texte aus dem Expeditionsbericht von Carl Chun, Aus den Tiefen des Weltmeeres. Schilderungen von der Deutschen Tiefsee-Expedition, stammen aus der zweiten Auflage, Jena 1905, 592 Seiten. Das Zitat aus der Vossischen Zeitung, Berlin, ist der Ausgabe vom 1. Mai 1899 entnommen.
Person Eine Dokumentation von Henning Sietz