Endstation Ozean

Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert ließ der US-Öltycoon Henry Morrison Flagler eine Eisenbahn entlang der Ostküste Floridas über die Keys bis nach Key West bauen. Damit legte er auch den Grundstein für Miamis Aufstieg zu einer atlantischen Metropole

Kein Zweifel, Southern Florida is the place to be. Sexy und unbeschwert, kosmopolitisch und ultratolerant. So zumindest lautet das Klischee. Umso unvorstellbarer, dass noch vor 140 Jahren kein Durchschnittsamerikaner seinen Fuß in dieses mittlerweile gelobte Land gesetzt hätte. Genau dort, wo sich heute wie an einer Perlenschnur aufgefädelt an der Ostküste Hotspot an Hotspot reiht, zwischen Daytona, Fort Lauderdale und Key Biscayne, war um 1880 tiefstes touristisches Niemandsland. Schwach besiedelt und vernachlässigt. 

Gewiss, Key West gab es bereits und konnte eine stattliche Zahl von Einwohnern aufweisen, galt es doch mit seinem kleinen Hafen und reger Handelsaktivität, auch der strategischen Lage wegen – dichter an Kuba als jede andere Siedlung in den USA –, als „America’s Gibraltar“. Nur mit Schiffen gelangte man hierher, Neuengland oder Louisiana waren mehrere Tagesreisen entfernt. Den anderen Keys schenkte man damals wenig Beachtung, obwohl sie von Riffen geschützt und kaum den Gezeiten ausgesetzt waren. Von Miami war aber überhaupt noch nicht die Rede: ein weißer Fleck auf der Landkarte. Mehr als einen Außen­posten samt Militärbasis namens Fort Dallas hatte der heute so heiß begehrte Standort nicht zu bieten. 

Und wer gar vorhatte, von ­Amelia Island und Jacksonville an der Nordgrenze Floridas zu Georgia ins spanisch an­mu­ten­de St.  Augustine weiterzuziehen, dem blieb nichts anderes übrig, als eine umständliche Reise auf sich zunehmen, per Schiff den St. Johns River entlangzugondeln und die Fahrt mit der Kutsche fortzusetzen. Die Bahnstrecke endete nördlich hiervon, ziemlich abrupt, in Jacksonville, und südlich davon befand sich, über Hunderte Meilen, sumpfige, von Moskitoschwärmen verpestete Terra incognita. Ordentliche Unterkünfte waren eine Seltenheit, und es bestand keinerlei Infrastruktur. Wer hier längere Zeit verweilen wollte, war dazu verurteilt, sich einzuschränken, und sah sich mit Monotonie konfrontiert. Annehmlichkeiten, Vergnügungen? Fehlanzeige.

Genau diese leidvolle Erfahrung musste der schwerreiche Großindustrielle ­Henry Morrison Flagler, seines Zeichens Unternehmer, Erdölmagnat und, gemeinsam mit den Gebrüdern Rockefeller, Gründungsaktionär der immens erfolgreichen Standard Oil Company, machen, als er mit seiner ersten Frau Mary zur Erholung nach Jacksonville reiste. Im milden Winter Floridas sollte ihre chronische Bronchitis endlich ausheilen und ihr zu dauerhafter Erleichterung verhelfen. Flagler war ein umtriebiger Selfmademan um die 50, der es mit Investitionen in der Montanindustrie zu beträchtlichem Vermögen gebracht hatte und sich auf Erfolgen gar nicht erst ausruhte, sondern seine Machtstellung systematisch ausweitete.

Einige Jahre später besuchte Flagler erneut Florida, nachdem er lange unter dem Tod und Verlust seiner geliebten Mary gelitten hatte, als Witwer und Neuehemann, in Begleitung seiner zweiten Gattin Ida. Diesmal wagte er die Weiterfahrt nach St. Augustine, erlag auf der Stelle dem Charme dieses schmucken Küstenstädtchens – die älteste Ansiedlung durch Europäer auf amerikanischem Boden –, zeigte sich jedoch entsetzt angesichts des offenkundigen Mangels an touristischen Angeboten und des ungenutzten Potenzials dieser klimatisch wie topografisch so gesegneten Gegend.

Auch in den Flitterwochen legte er die Hände nicht in den Schoß, sondern witterte ungeahnten Gestaltungsspielraum in einer Region, die augenscheinlich nur auf entscheidungsfreudige, mutige Investoren wie ihn gewartet hatte. So beschloss er, der aus seiner Sicht unverständlichen Lähmung schleunigst ein Ende zu bereiten. 

Als Mann der Tat klinkte er sich in bereits bestehende Bauvorhaben für Luxushotels ein und begann sogleich mit der Planung eines eigenen: dem fürstlich ausgestatteten „Ponce de León“ mit nicht weniger als 540 Zimmern, wobei Bauherr wie Architekt einen hispanisierenden, schwelgerischen Stil favorisierten. Als es 1888 seine Pforten öffnete und zu einer der begehrtesten Nobelabsteigen an der aus ihrem Dornröschenschlaf er­wachen­den Südostküste avancierte, waren bereits weitere, ebenso ambitionierte Flagler-Hotels im Bau. Die Gäste aus den Großstädten des kalten Nordens, von denen die wohlhabendsten sich gleich für mehrere Wochen einmieteten, staunten nicht schlecht, als sie sahen, dass sich die Wintermonate im eigenen Land inmitten von Orangenplantagen verbringen ließen und man, bei konstant wohl­tuendem Wetter, den Ozean direkt vor Augen hatte und nicht aufs Golfspiel verzichten musste.

Man huldigte einem mediterranen Ambiente, und binnen Kurzem war die Idee einer „Amerikanischen Riviera“ geboren. Mit Strandpromenaden, Restaurants, Tanzlokalen und Golfplätzen. Mit latent europäischem Flair. Niemand, so Flaglers Vorstellung, musste von nun an mehr an die italienische Adria oder an die französische Mittelmeerküste reisen. Die Urbanisierung von St. Augustine und bald auch von weiter südlich gelegenen Orten am Atlantik wurde so zum Inbegriff des Dolce Vita auf dem Höhepunkt des Gilded Age – jener Ära im ausgehenden 19. Jahrhundert, in der die Blütezeit der amerikanischen Wirtschaft einherging mit einem gehobenen Lebensstil und einer genusssüchtigen High Society, dem Geldadel von Chicago, Boston und New York.


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mare No. 161

mare No. 161Dezember 2023 / Januar 2024

Von Jens Rosteck

Autor Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler mit lang­jähriger Frankreichvergangenheit, konnte sich bei ­seinen zahlreichen Überquerungen der Florida Keys an der eigenwilligen Schönheit der alten Brücken, Pfeiler und Streckenfragmente kaum sattsehen.

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Vita Autor Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler mit lang­jähriger Frankreichvergangenheit, konnte sich bei ­seinen zahlreichen Überquerungen der Florida Keys an der eigenwilligen Schönheit der alten Brücken, Pfeiler und Streckenfragmente kaum sattsehen.
Person Von Jens Rosteck
Vita Autor Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler mit lang­jähriger Frankreichvergangenheit, konnte sich bei ­seinen zahlreichen Überquerungen der Florida Keys an der eigenwilligen Schönheit der alten Brücken, Pfeiler und Streckenfragmente kaum sattsehen.
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