Ende einer Illusion

Seekarten veränderten die Welt. Im 16. Jahrhundert sprengten sie das mittelalterliche Bild von der Erde. An die Stelle von Mythos trat Wissen. Was hat das mit uns Menschen gemacht?

Tatsächlich erkannte der Entdecker seine Entdeckung nicht. Noch auf seiner vierten und letzten Fahrt, die ihn 1502 an die Küste des heutigen Honduras führte, wollte Kolumbus nicht wahrhaben, dass er eine neue Welt gefunden hatte. Bis zu seinem Tod 1506 beharrte der Seefahrer starrsinnig darauf, dass die von ihm entdeckten Gestade zu Asien gehörten und er, wie beabsichtigt, dessen kolossalen Schätzen nahegekommen wäre. Doch der Pionier wurde von der Entwicklung, die er selbst ausgelöst hatte, überholt. Seinen Nachfolgern auf dem Kurs nach Westen, der nun nicht mehr die untergehende Sonne symbolisierte, sondern die aufblühende Hoffnung, war schnell klar, dass sie es mit einem neuen Kontinent zu tun hatten.

Als Kolumbus im spanischen Valladolid verbittert starb, saß in dem kleinen Vogesenort Saint-Dié schon der deutsche Kartograf Martin Waldseemüller an den Arbeiten für eine revolutionäre 2,32 Meter breite und 1,29 Meter hohe Weltkarte, die zwischen Europa und Asien einen neuen Erdteil zeigte, dem der Kartenzeichner, inspiriert von der Reisebeschreibung des Florentiner Navigators Amerigo Vespucci, den Namen „America“ gab.

Ein Erdbeben. Die Alte Welt geriet vollkommen aus den Fugen. Die neu entdeckte Welt sprengte das mittelalterliche Bild von einer Erde, die mit den Kontinenten Europa, Asien und Afrika genauso dreifaltig war wie das Bild Gottes mit Vater, Sohn und Heiligem Geist. Die heilige Stadt Jerusalem bildete plötzlich nicht mehr den Mittelpunkt der Welt. Die Erde wuchs. Der Himmel wankte. Und an die Stelle von Mythos trat Wissen.

Dieses Wissen vervielfältigte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Sechs Jahre nach Kolumbus’ erster Fahrt segelte der Portugiese Vasco da Gama um die Südspitze Afrikas nach Indien. 20 Jahre später fand der Spanier Ferdinand Magellan den westlichen Weg in den Pazifik. Und jeder Seefahrer war auch Geograf, bestimmte Breitengrade, hielt Distanzen fest, zeichnete Küsten-linien. Seekarten entstanden, die mit jeder Reise genauer wurden.

Es gab viele Reisen. Den Spaniern und Portugiesen folgten Engländer, Franzosen, Holländer.

1497 entdeckte Giovanni Caboto, Italiener in britischen Diensten, Neufundland. Britische Fischer folgten ihm und errichteten Siedlungen an der Küste des heutigen New England. 1524 segelte der Italiener Giovanni da Verrazano an der Küste Maines entlang und erreichte die Mündung des Hudson. Zehn Jahre später glaubte der Franzose Jacques- Cartier, im Sankt-Lorenz-Strom die Passage zum Pazifik gefunden zu haben; er erkundete – vergeblich – die Großen Seen. Im Süden eroberten die Spanier Mexiko und arbeiteten sich dann von der Karibik entlang der amerikanischen Ostküste nach Norden hoch. 1513 erreichte Ponce de León das heutige Palm Beach und gab der Region den Namen Florida.

Auf der Westseite Amerikas umsegelte und vermaß Hernán Cortés, der blutige Eroberer des Aztekenreichs, die Halbinsel Baja California. 1542 fuhr Juan Cabrillo die Westküste hinauf bis nach Nordkalifornien – übersah allerdings wegen Nebels die Bucht von San Francisco. Ein halbes Jahrhundert nach Kolumbus’ Entdeckung waren weite Teile der amerikanischen Küsten schon erkundet und auf Seekarten festgehalten.

Seekarten waren Mittel der Macht. Wer sie besaß und Kurse kannte, wusste den Weg zu Ländern und Schätzen, die er in Besitz nehmen konnte. Die spanische Krone hütete ihre „Padrón Real“, die Mutterseekarte, in die alle laufenden Aktualisierungen eingetragen wurden, wie einen Staatsschatz. Sie ruhte in einer Lade, die mit zwei Schlössern gesichert war, eines konnte der oberste Steuermann des Landes öffnen, das andere der oberste Kartograf. Auch in Portugal war es bei Todesstrafe verboten, Karten und nautische Schriften zu kopieren oder ins Ausland zu schaffen.

Waldseemüller kam an die Auskünfte für seine große Weltkarte nur durch seinen Mäzen, den lothringischen Herzog René II., der selbst eine Obsession für die neuesten Errungenschaften der Kartografie hatte und dank seiner guten Beziehungen zu den europäischen Fürstenhäusern aktuelle Karten beschaffen konnte.

Doch die Mauern, die um das geheime nautische Wissen errichtet waren, wurden schon bald porös. Das Zeitalter der Entdeckungen war auch eine Epoche erster Globalisierung. Mit den Warenströmen verließen auch Menschen ihre alten Grenzen. Auf Dauer ließ sich das Wissen der Kartografen nicht hinter Schloss und Riegel einsperren.


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mare No. 129

August / September 2018

Von Peter Sandmeyer

Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Autor in Hamburg, weiß als passionierter Segler die Vorteile moderner Navigationstechnik zu schätzen. Und doch greift er bei seinen Törns immer wieder auf papierene Seekarten zurück. Haptik und Übersichtlichkeit seien durch Plotter nicht zu ersetzen.

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Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Autor in Hamburg, weiß als passionierter Segler die Vorteile moderner Navigationstechnik zu schätzen. Und doch greift er bei seinen Törns immer wieder auf papierene Seekarten zurück. Haptik und Übersichtlichkeit seien durch Plotter nicht zu ersetzen.
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Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Autor in Hamburg, weiß als passionierter Segler die Vorteile moderner Navigationstechnik zu schätzen. Und doch greift er bei seinen Törns immer wieder auf papierene Seekarten zurück. Haptik und Übersichtlichkeit seien durch Plotter nicht zu ersetzen.
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