Ende der Kindheit

Bei der Marine reift der pubertierende Knabe zum Kadetten

Die Psychoanalyse nennt das große Ereignis einigermaßen trocken einen „Libidoschub". Was sich während der Pubertät abspielt, ist ein Drama im Seelenleben des jungen Menschen, dessen Gewalt das Selbst einer schonungslosen Prüfung unterwirft.

Eine reine Männergesellschaft, in einer Seekadettenschule etwa oder auf einem Schiff, verschärft das Problem der Identitätsfindung. Zärtlichkeit wird hier offiziell als weibisch verachtet; von den jungen Männern werden Härte, Kraft und Mut erwartet. Auf See herrschen strenge Regeln und Hierarchien; die Erfahrung von Naturgewalten, existenzielle Ängste und die Entfernung von der Vertrautheit der Familie verursachen Einsamkeit und Heimweh.

Neben diesen Extremerlebnissen müssen die Jungen die Verstörungen der Pubertät selbst bewältigen. Das Zusammenschießen der prägenitalen Regungen zu genitalen Gefühlen und Objektvorstellungen, das wüste Aufflammen dessen, was Schopenhauer den „Brennpunkt des Willens" nannte, ist begleitet von einer Schwindel erregenden psychischen Achterbahnfahrt. Extremer Idealismus wechselt mit atemberaubender Gefühlsrohheit, wilde Triebhaftigkeit und Aggression schlagen um in verletzliche Zartheit und die berühmte „Pubertätsaskese".

Zugleich ist diese Phase ein Zeitabschnitt der Illuminiertheit. Die Psychoanalytikerin Anna Freud hat den Respekt vor der „Weisheit" der Pubertierenden gelehrt: Die Auseinandersetzung zwischen wachsendem Triebanspruch und sich stabilisierendem Erwachsenen-Ich steigert die intellektuellen Fähigkeiten immens.

Nicht wenige Menschen haben wohl ihren persönlichen Höhepunkt in der Pubertät erreicht, denn am Ende dieser Zeit steht meist das Akzeptieren dessen, was Philosophen maliziös die „Realitätsillusion" nennen. Geglaubt wird an das, woran alle glauben; für die Wirklichkeit wird gehalten, was allgemein dafür gilt. Der Rest ist Verdrängung der jugendlichen Einsichten oder das Streben, wieder auf dieses Niveau zu gelangen. Kein Wunder also, dass so viele große Texte der Weltliteratur Pubertätsromane sind. Wenn man Goethe oder Thomas Mann glaubt, sind Dichter Menschen, die niemals wirklich aus der Pubertät herauskamen.

Der Schiffsjunge hat im maritimen Roman einen ebenso exponierten Platz wie der Kapitän und der Koch. Aus psychologischer Perspektive wahrgenommen, bilden sie das Dreieck Vater, Mutter, Kind. Beobachtet von der Mannschaft, geschützt oder gefoppt, entwächst der Knabe langsam seiner Kindheit oder wird durch eine Initiation in die Erwachsenenwelt aufgenommen. Danach ist er ein Mann unter Männern.

Die Bilder entstanden 1997 bis 1999 in Schulen der ukrainischen Handelsmarine in Odessa und Kherson


„Ich habe mein ganzes Leben zwischen vierzehn und zwanzig erlebt, als Seekadett, in eine Hängematte, eine Kabuse, ein Schiff eingesperrt. Damals wusste ich, wie jeder Seemann, nichts von der Welt. Nachher aber, als ich in die Welt kam, habe ich nichts mehr erlebt. Oder vielmehr, immer das Gleiche, immer wieder diese sechs Jahre persönlicher Einsamkeit, immer wieder diesen Inhalt von Erdachtem. Ich habe seither ein wildes Leben geführt, by Jove. Aber, von reifenden Ideen abgesehen, habe ich nichts Neues erlebt"

Slim in „Tropen" von Robert Müller, 1915

„Da wurde zweimal von außen gepocht. Georg Lauffer sprang auf, eilte nach der Tür, öffnete sie, packte den Küchenjungen und zog ihn zu sich herein. Der Geraubte widerstrebte, war aber gleich willenlos. Er ließ sich in der Mitte der Kammer aufstellen wie ein Gerät. Er fühlte sich betrachtet, und das tat ihm wohl, schmeichelte ihm, sodass er den Angriff für ungefährlich hielt. Unbewusst berief er sich auf den herausfordernden Stolz der Jugend, die zu verführen wünscht, ohne über die Anlockung hinaus bereit zu sein"

„Das Holzschiff" von Hans Henny Jahnn, 1949 - 51

„Hab ich in meinem Leben nicht genug Jungs zum Dienst unter dem Roten Banner antreten lassen und zum Seemannshandwerk erzogen, dem Handwerk, dessen Geheimnis sich in einem einzigen Satz zusammenfassen lässt und das den Jungen doch Tag für Tag aufs Neue eingetrichtert werden muss, so lange, bis es Teil jedes Gedankens im Wachen und jedes Traums im Schlafen ist! Die See war gut zu mir, aber wenn ich an all die Jungen denke, die durch meine Hände gingen und von denen heute manche erwachsen sind und manch andere ertrunken, alle aber tauglich für die See - dann denke ich, ich habe meine Sache nicht schlecht gemacht. Kehrte ich morgen heim - ich wette, es vergingen keine zwei Tage, und irgend so ein sonnenverbrannter, junger Chief würde in einer Hafenschleuse an mir vorbeigondeln und mit seinem frischen, tiefen Bass auf meinen Hut herunterrufen: ,Erkennen Sie mich nicht mehr, Sir? Was? Der kleine Soundso. Von diesem und jenem Schiff. War meine erste Fahrt.' Und dann fiele mir wieder ein verwirrter Milchbart ein, nicht höher als die Sessellehne hier, und auf dem Kai vielleicht die Mutter oder große Schwester, sehr still, aber zu aufgeregt, um dem Schiff nachzuwinken ... Und das kleine willige Opferlamm wird noch vor dem nächsten Morgen sehr seekrank sein. Und wenn der Junge nach und nach all die kleinen Geheimnisse und das große Mysterium seiner Kunst kennen lernt, dann wird er tauglich sein für Leben oder Tod - ganz nach dem unergründlichen Beschluss der See"

Kapitän Marlow in „Lord Jim" von Joseph Conrad, 1899

mare No. 26

No. 26Juni / Juli 2001

Von Eckart Goebel und Markus Milde

Dr. Eckart Goebel, Jahrgang 1966, lebt als Literaturwissenschaftler in Berlin. In mare No. 25 schrieb er über die Mitte des Mittelmeeres

Markus Milde, Jahrgang 1972, lebt als freier Fotograf in Essen. Die Fotos sind Teil seiner Abschlussarbeit Der Geruch des Meeres an der Uni Essen. Sie entstanden während drei Jahren mit einer Großbildkamera. Dies ist seine erste Arbeit in mare

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Vita Dr. Eckart Goebel, Jahrgang 1966, lebt als Literaturwissenschaftler in Berlin. In mare No. 25 schrieb er über die Mitte des Mittelmeeres

Markus Milde, Jahrgang 1972, lebt als freier Fotograf in Essen. Die Fotos sind Teil seiner Abschlussarbeit Der Geruch des Meeres an der Uni Essen. Sie entstanden während drei Jahren mit einer Großbildkamera. Dies ist seine erste Arbeit in mare
Person Von Eckart Goebel und Markus Milde
Vita Dr. Eckart Goebel, Jahrgang 1966, lebt als Literaturwissenschaftler in Berlin. In mare No. 25 schrieb er über die Mitte des Mittelmeeres

Markus Milde, Jahrgang 1972, lebt als freier Fotograf in Essen. Die Fotos sind Teil seiner Abschlussarbeit Der Geruch des Meeres an der Uni Essen. Sie entstanden während drei Jahren mit einer Großbildkamera. Dies ist seine erste Arbeit in mare
Person Von Eckart Goebel und Markus Milde