Elender Staub

Der Wüstenwind am Aralsee macht krank, Kinder sterben. Doch die Regierung Usbekistans verharmlost die Katastrophe

Neulich noch hat Arslan seinen Bruder aufgesucht, ist den Hügel hinauf, der vor der Stadt liegt. Schritt die Reihen der Gräber ab, bis er zu der Stelle kam. Streichelte, küsste den Stein. Grub die Hände in die Erde – seine Erde. Arslan, der „Löwe“. Nun ist er selbst krank. Ein dunkler Gang, lang und schmal. Kinderzeichnungen rechts und links, ein Krokodil mit Akkordeon, ein tanzender Schneemann. Am Ende Licht. Da liegt er.

Die Mutter, eine zierliche Frau mit rotem Samtkleid, spricht leise, aber stetig. Redet vom Gluthauch der Wüste, der einem fast die Augen verkohlt. Der so giftig ist, dass der Atem ihrer Söhne zu rasseln begann. Redet von den 25000 Sum, die sie verdient – 25 Dollar –, den 60000, die sie für Medikamente brauchte, dem Vieh, das sie verkaufen musste, redet und redet in einem fort, damit es nie still wird. Der Löwe schläft. Eine Wodkaflasche mit Milch steht auf dem Nachtschränkchen. Gleich daneben weitere Betten. Das Mädchen Gulschean mit geschorenem Schädel, das schnalzt und mit den Augen flattert, als würde ein Zug vorbeifahren. Das Hirn verkümmert, wie bei vielen Kindern in der Region. Jerlan mit dem Klumpfuß am Balken über dem Bett, dort hängt das Bein festgeschraubt, alle paar Wochen rückt der Knochenstrecker einen Zentimeter weiter. Seine Mutter hat der Krankenschwester einen Schein zugesteckt, „passen Sie gut auf mein Kind auf“. Ganz in der Ecke ein Junge, Blassgesicht: Islam Karimow. Was für ein Name.

„Oh“, haben die Krankenschwestern gesagt, „der Herr Präsident.“ Islam Abduganjewitsch Karimow, Staatsoberhaupt der Republik Usbekistan seit 1991. Meine lieben Kinder, vergesst nie, dass ich an nichts spare, um euch glücklich zu machen. Ihr seid die Zukunft meines Landes. Nichts liegt mir mehr am Herzen als eure Gesundheit. Dabei meine ich nicht nur die körperliche. Ein gesunder Körper heißt: gesunde Ansichten, gesunde Moral.

Sechs Dollar gibt Karimow im Jahr für die Gesundheit jedes Bürgers aus. Unter 60 Dollar, meint die Weltgesundheitsorganisation (WHO), ist eine Minimalversorgung nicht möglich. Dagegen investiert er Millionen in Propagandaplakate und Schautafeln, bedeckt das kahle Land mit blumigen Phrasen, zeigt fettes Wiesengrün, wo nichts wächst, spricht von Überfluss und Wohlstand inmitten bröckelnder Plattenbauten, vom Stolz auf das Geleistete. Aber die Parole von der Überlegenheit usbekischer Ingenieurskunst hängt schief am abgeknickten Mast.

Karakalpakstan heißt das autonome Gebiet südlich des Aral. In das Meer hinein erstreckte sich auf einer Halbinsel die Hafenstadt Muinak. Heute liegt sie in der Wüste. Überall hat Karimow Schilder an Straßenlaternen anbringen lassen, hoch genug, dass keiner sie herunterschlagen kann. Es ist das Jahr der blühenden Viertel oder Usbekistan ist ein Land mit grandioser Zukunft. Ein Bild zeigt wogende Felder in einer Mulde aus zwei Händen. Ein paar Laternen weiter, Kraftmenschen mit schwellenden Bizepsen an übervollen Fischnetzen, beschwören Fisch als Reichtum unseres Volkes. Dann, ganz ohne Bild, als sei es offenkundig: Usbekistan blüht. Aral lebt! Am Eingang von Muinak der Prolog: Wir müssen unsere Kinder dazu bringen, das Land zu lieben.

Als in der ersten Aprilwoche Attentäter in Buchara und Taschkent Sprenggürtel vor Polizeistationen zündeten, die Armee mit Schützenpanzer gegen islamische Extremisten vorging, Menschen in Fetzen flogen und vom Frühling nicht viel blieb, resümierte am Sonntag der Nachrichtensprecher vom staatlichen Fernsehen die Woche: „Die Aprikosen blühen und die Kinder spielen, alles ruhig.“ Es ist wie mit den Schauspielern auf der Bühne, die durcheinanderreden: Immer ist der am besten zu verstehen, den ein Schweinwerfer beleuchtet, so blendet Islam Karimow Misstöne aus und wirft ein anderes Licht auf sein Land.

Schon damals hatte man den Menschen in Muinak erzählt, was sie sehen, sei nicht Wüste, sondern Ebbe. Vorübergehend. Die Gezeiten hätten heute größere Intervalle. „Muinak bleibt unser Hafen.“ Das war vor 40 Jahren. Nichts blieb, nur das Vorübergehende.

Willkommen am Meer Aral. Weithin Sand, vom Wind in Form gebracht, Sand und Strauch. Schiffswracks auf Dünen. Die Kaimauern verschwunden. Die rostigen Stahlpfähle, einmal Kräne – vielleicht. Ein Silo, ein Schlagbaum in der Einöde – wozu? Hier kennt sich nur noch die Erinnerung aus. Fahler Busch auf farblosem Grund. Doch leben welche an der Küste. Aus Planken sind die Hütten gemacht, ein Misthaufen davor, Kühe, ein paar Hähne. Das Dörfliche nehmen gleich die Mietskasernen dahinter, den Rest an Beschaulichkeit die Ruinen zur Stadt hin. Wie leer es ist, wo etwas war.


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mare No. 45

No. 45August / September 2004

Von Dimitri Ladischensky und Francesco Zizola

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, reiste drei Wochen lang im Auto durch die Aralseeregion Karakalpakstan – mit Medikamenten für die Krankenhäuser und einem Akkubohrer zu Operationszwecken. Schwierig gestaltete sich die Recherche: Passierscheine vom Außenministerium waren plötzlich erforderlich, und als die dann besorgt waren, gab es doch nur präparierte Gesprächspartner und potemkinsche Dörfer.

Francesco Zizola, 1962 geboren, lebt in Rom und arbeitet unter anderem für das New York Times Magazine, Time und mare. Die Bilder vom Aralsee entstanden im Rahmen seines Fotoprojekts über die Lebensbedingungen von Kindern rund um den Globus.

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Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, reiste drei Wochen lang im Auto durch die Aralseeregion Karakalpakstan – mit Medikamenten für die Krankenhäuser und einem Akkubohrer zu Operationszwecken. Schwierig gestaltete sich die Recherche: Passierscheine vom Außenministerium waren plötzlich erforderlich, und als die dann besorgt waren, gab es doch nur präparierte Gesprächspartner und potemkinsche Dörfer.

Francesco Zizola, 1962 geboren, lebt in Rom und arbeitet unter anderem für das New York Times Magazine, Time und mare. Die Bilder vom Aralsee entstanden im Rahmen seines Fotoprojekts über die Lebensbedingungen von Kindern rund um den Globus.
Person Von Dimitri Ladischensky und Francesco Zizola
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, reiste drei Wochen lang im Auto durch die Aralseeregion Karakalpakstan – mit Medikamenten für die Krankenhäuser und einem Akkubohrer zu Operationszwecken. Schwierig gestaltete sich die Recherche: Passierscheine vom Außenministerium waren plötzlich erforderlich, und als die dann besorgt waren, gab es doch nur präparierte Gesprächspartner und potemkinsche Dörfer.

Francesco Zizola, 1962 geboren, lebt in Rom und arbeitet unter anderem für das New York Times Magazine, Time und mare. Die Bilder vom Aralsee entstanden im Rahmen seines Fotoprojekts über die Lebensbedingungen von Kindern rund um den Globus.
Person Von Dimitri Ladischensky und Francesco Zizola