Eiszeit

Elf Monate in Eis und Wind. Die Tagebuchaufzeichnung eines Überwinterers auf der einzigen deutschen Antarktis-Station

Kapstadt, Silvester 1993

Eine Hand streift zärtlich die meine, ich werde noch bleiben. Silvesterparty im Hemingway’s. Das Publikum vergleichbar mit der Boheme am Prenzlauer Berg in meiner zweiten Heimatstadt Berlin, nur lebendiger. Die Straßen sind voller Menschen. Der Jahreswechsel ist in Kapstadt das Fest der Farbigen. Viele tanzen ausgelassen auf der Straße. Ich habe mich verliebt in diese Stadt.

Der Jahreswechsel fällt mit der Abfahrt der norwegischen „Polar Queen“ aus Kapstadt zusammen. Sie wird in diesem Jahr die Versorgung der Station übernehmen und uns ca. 4500 Kilometer nach Süden an den Schelfeisrand der Antarktis bringen.

11. Januar 1994

Unser Schiff nähert sich nach achttägiger Fahrt langsam der AtkaBucht. Es ist früher Nachmittag, die Sonne scheint, Windstille. Die Stimmung ist gut, ein toller Auftakt unserer Überwinterung.

Nach nur vier Stunden ist die Entladung der „Polar Queen“ abgeschlossen. Verpflegung und Ausrüstung für die Station sowie die komplette Ausstattung für die wissenschaftlichen Programme des Polarsommers werden aufs Schelfeis hinübergesetzt und mit Pistenbullies, unseren Kettenfahrzeugen, zur acht Kilometer entfernten Station geschleppt.

Abends in der Messe das erste Durchatmen, Vorfreude auf mein Jahr im Eis, ich habe das Gefühl, hier nicht nur aushalten, auch leben zu können. Die Station überrascht mich angenehm. Ich erwarte eine schummerige Atmosphäre, beengte Platzverhältnisse, doch ich entdecke eine helle, großräumig angelegte und gut ausgestattete kleine Welt unter dem Eis, eine große Messe, die blitzsaubere Küche, Laboratorien voller Technik mit einem eigenen Rechnernetz, ein Hospital, richtige Toiletten und Duschen, eine Sauna, eine große Werkstatt und mehr.

3. März 1994

Eine Woche später als geplant verlässt die „Polar Queen“ die Atka Bucht, an Bord unsere Vorgänger und die sogenannten „Sommergäste“, zusammen mit der Schiffsbesatzung fast 50 Menschen. Zehn Tage lang durchkreuzte ein kräftiger Ostwind alle Verladepläne, die „Polar Queen“ war vom Eis eingeschlossen und konnte die Eiskante nicht erreichen.

Zu viele ungeduldige Menschen in der Station, die Stimmung sank und wurde vor allem durch die Anwesenheit dreier Schwedinnen der ITASE-Expedition und auch von Bob, einem Südafrikaner, hochgehalten. Wir saßen oft zusammen. Sie interessierten sich für unsere Arbeit. Bob fragte nach dem Mauerfall in Berlin, er fragte auch viel über das frühere Leben in Ostdeutschland.

Gestern abend bei Ebbe, das Packeis riss an vielen Stellen auf, boxte sich das Schiff bis zur Eiskante durch. Die Manöver der wendigen „Polar Queen“, immerhin kein Eisbrecher, lassen einen erfahrenen Kapitän ahnen. Sofort beginnen die Verladearbeiten. Locker und ungezwungen die Atmosphäre am Abfahrtstag. Erleichterung auf beiden Seiten. Winken auf der Schiffs-, Winken auf der Eisseite, lautes Tuten der Schiffssirene erwidert von den Hupen unserer Pistenbullies. Schnell entfernt sich das Schiff von der Eiskante und verlässt die Atka-Bucht. Wir sind allein.

31. März 1994

Die täglichen Radiosondenaufstiege (Starten von Wetterballonen und Routineaufgabe) werden Ziel unseres Ehrgeizes. Wir wollen unsere Vorgänger übertreffen. Wir verändern das System der Ballonvorbereitung, bei schlechtem Wetter wagen wir abenteuerliche Startversuche. Mit speziellen Sonden und Ballons können wir die Vertikalverteilung des Ozons ermitteln, einen wichtigen Beitrag zur Ozonforschung liefern.

Ich will das gute Wetter nutzen und zur Südstation fahren, der Himmel ist nahezu wolkenlos. Zusammen mit Valeri und Jürgen schaufeln wir den Eingang unserer selbstgebauten Ausfahrt für die Motorschlitten, den Ski-Doo-Tunnel, frei. Eine 50 Zentimeter dicke Schneeschicht hatte sich gebildet, anstrengende Schaufelei. Viel Zeit verloren, Valeri befürchtet einen Wetterumschwung. Ich verzichte daher auf das Mittagessen und fahre sofort los. Bei Sonnenschein und guter Sicht geht es mit Jürgen und Detlef zur Geophysik-Südstation, allein fahre ich zum Pegel Süd weiter. Ich mag die Fahrten über die unendliche Eisfläche, verfalle zeitweise einem aufkommenden Geschwindigkeitsrausch. Angekommen schalte ich den Motor aus und verharre einen Moment. Kein Laut. Gibt es nicht doch irgendwo ein Geräusch? Der Motorschlitten beginnt sich abzukühlen, ein leises Knistern.

Vom lauten Knirschen meiner Schritte auf dem gefrorenen Schnee begleitet, laufe ich die letzten Meter zum Pegelfeld. Mit einem Zollstock lese ich den Schneezutrag des vergangenen Monats ab. Nur mit roher Gewalt und einer Rohrzange kann ich zwei festgefrorene Aluminiumstangen höhersetzen, sie schauen nur noch einen halben Meter aus dem Eis heraus. Ich nehme noch die geforderten Schneeproben. Für alles brauche ich unerwartet lange, fast eine Stunde. Im Osten zieht eine bedrohliche Wolkenfront auf, ich beeile mich. Valeris Vorhersage wird bestätigt, ein Wetterumschwung. Auf halbem Wege zur Station vollständig bedeckter Himmel. Der Wind nimmt drastisch zu.

Dann „white out“, keine Konturen mehr erkennbar. Ich weiß nicht mehr genau, wohin ich fahre, Orientierungslosigkeit. Die Nähe der Station beruhigt mich. Die Spuren unserer Motorschlitten von der Herfahrt kann ich beim Fahren nicht mehr erkennen. Ich fahre langsam und orientiere mich an den Markierungsstangen der Trasse. Die Station kann ich sicher erreichen.

4. April 1994

Mein Geburtstag. Vor Mitternacht sitze ich im Labor. Punkt zwölf kommt unsere gesamte Truppe herein mit einem Tablett, Sektgläser. Ein mit Raumspray präparierter Kunstblumenstrauß. Schorsch mit einer großen Schubkarre voller Geschenke. Das Faxgerät lief heute im Hochbetrieb. Aus aller Welt treffen Glückwünsche ein. Ich freue mich riesig, viele denken an mich. Mir wird warm ums Herz.

26. April 1994

Heute war es soweit, Eröffnung der Meereissaison. Der Sturm lässt nach, Schorsch und Fritz wollen zur Eiskante, tun geheimnisvoll. Die erste Fahrt zum Meereis? Unsere alten Hasen haben eine gute Nase für die Abläufe im Umfeld der Station. Die Pinguine stehen diesmal dicht an der Eiskante. Überwältigender Anblick, wir schätzen 7000 Tiere. Sie stehen nicht stumm auf dem Eis, wohl fast jeder trompetet mit voller Kraft. Schorsch, ein erfahrener Antarktiskenner: Wir fahren runter! Alles klar: Meereis. Ich bin voller Spannung. Wir fahren zu einer natürlichen Rampe und dann, ganz vorsichtig, die ersten Meter auf dem zugefrorenen Ozean. Eine andere Welt als die der weißen Wüste des Schelfeises erwartet uns. Abwechslungsreicher, voller unterschiedlicher Eindrücke. Festgefrorene Eisberge, Packeiswälle, Eishöhlen, dazu Robben und Pinguine. Wechselnde Lichtverhältnisse lassen diese Welt täglich anders erscheinen. Wir fahren bis zum bläulich leuchtenden Höhleneisberg, sehen zwei Robben. Im Hintergrund purpurfarbener Himmel. Wenn ich von der Antarktis träumte, dann waren es Bilder, die ich jetzt vor mir sehe.

19. Mai 1994

Beginn der Polarnacht. Die Sonne ist über Mittag allerdings noch ein paar Minuten zu sehen, ein optischer Effekt, Refraktion. Der antarktische Winter steht unmittelbar bevor, die Atmosphäre wird sich bis zu Temperaturen von –90 Grad abkühlen. Heute ist schon die zweite Ozonsonde eingefroren, stundenlange Arbeit vergebens, Valeri hat sie präpariert. Ich ärgere mich sehr, schon wieder kein anständiges Ozonprofil. Die Stimmung ist mies. Ich schiebe Valeri die Schuld zu, lasse ihn das auch spüren, scheue mich aber vor offener Auseinandersetzung, möchte unsere gute Zusammenarbeit nicht aufs Spiel setzen. Finde endlich Zeit, mein Lettisch zu verbessern.


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mare No. 6

No. 6Februar / März 1998

Von Jens Wickert

Jens Wickert, Jahrgang 1963, fotografiert bereits seit seiner Schulzeit. Nach seinem Studium der Physik in Dresden und Berlin liegt sein heutiges Arbeitsgebiet in der Weltraumforschung. 1994 überwinterte er als Meteorologe auf der Neumayer-Station. In mare No. 2 stellte er die Kaiserpinguine der Antarktis vor.

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Vita Jens Wickert, Jahrgang 1963, fotografiert bereits seit seiner Schulzeit. Nach seinem Studium der Physik in Dresden und Berlin liegt sein heutiges Arbeitsgebiet in der Weltraumforschung. 1994 überwinterte er als Meteorologe auf der Neumayer-Station. In mare No. 2 stellte er die Kaiserpinguine der Antarktis vor.
Person Von Jens Wickert
Vita Jens Wickert, Jahrgang 1963, fotografiert bereits seit seiner Schulzeit. Nach seinem Studium der Physik in Dresden und Berlin liegt sein heutiges Arbeitsgebiet in der Weltraumforschung. 1994 überwinterte er als Meteorologe auf der Neumayer-Station. In mare No. 2 stellte er die Kaiserpinguine der Antarktis vor.
Person Von Jens Wickert