Eiskalter Tod

Wer weiß schon genau, was zu tun ist, wenn man über Bord geht? Ein Vademecum fürs Überleben im kalten Meer

Die Menschen auf der „Estonia“ haben kaum eine Chance. Es ist mitten in der Nacht, als die Autofähre in Seenot gerät. Die meisten der fast 1000 Passagiere liegen in ihren Kojen, während über der Ostsee ein Sturm tobt. Auf ihrer Fahrt von Tallinn nach Stockholm kämpft die „Estonia“ bereits seit Stunden gegen die fünf Meter hohen Wellen an. Hunderte Male hat sie sich aufgebäumt und ist wieder in die nächste Welle gekracht. Um ein Uhr nachts, mitten auf der Ostsee, passiert es. Die Bugklappe reißt ab. Durch die große Öffnung schießt Wasser ins Schiff und flutet die Parkdecks. 

Die „Estonia“ neigt sich nach rechts, erst nur ein wenig. 20 Minuten später rollt sie sich ganz auf die Seite. Wasser strömt in die Flure und Kabinen. Nur einige Passagiere schaffen es nach draußen zu den Außendecks. Sie krallen sich an Bänken und Geländern fest. Doch als die „Estonia“ um kurz vor zwei Uhr versinkt, müssen sie in die kalte Ostsee springen. Schwimmwesten halten sie oben. Brecher stürzen auf die Menschen herab. Sie sind durchnässt und kühlen schnell aus.

Damals, am 28. September 1994, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Schiffe in der Nähe halten Kurs auf das Unglücksgebiet. In Finnland und Schweden starten Rettungshubschrauber. Gut 200 Kilometer sind es bis zur schwedischen Küste, 100 bis zur finnischen. Sie fliegen so schnell, wie es geht, denn jede Minute zählt. Das Wasser hat nur knapp über zehn Grad Celsius. Es saugt den Menschen die Wärme aus dem Leib. „Wasser leitet Wärme gut, rund 20-mal besser als Luft. Deshalb kühlt man im kalten Wasser so schnell aus“, sagt Ulrich van Laak, ehemaliger Flottenarzt beim Schifffahrtmedizinischen Institut der Marine in Kronshagen bei Kiel. In den vergangenen Jahrzehnten hat er zusammen mit Kollegen im Rettungsmittellabor über unterkühl­te Menschen geforscht.

Van Laak erinnert sich noch sehr gut an den Untergang der „Estonia“. Er hatte damals engen Kontakt zu den schwedischen Rettungsfliegern. „Es war dramatisch“, sagt er. „Die Kollegen hatten an der Unglücksstelle nur acht Minuten Zeit, um die Leute aus dem Wasser in den Helikopter zu ziehen, dann mussten sie wieder zurück, weil der Treibstoff sonst nicht gereicht hätte. Sie flogen ja direkt gegen den Sturm an.“ Die sinkende „Estonia“ zog damals mehr als 700 Menschen mit sich in die Tiefe. 229 konnten sich nach draußen retten, ehe das Schiff unterging. 92 von ihnen aber starben im Wasser oder kurz nach der Bergung an Unterkühlung. 

Van Laak kennt die Grenze zwischen Leben und Tod. Und die Wirkung, die kaltes Wasser auf den Menschen hat. „Mediziner teilen die Unterkühlung in drei Phasen ein, die auf unterschiedliche Art zum Tod führen können.“ Phase eins setzt mit dem Sprung ins kalte Wasser ein. Wenn der Körper untertaucht, hält der Mensch vor Schreck den Atem an. Manche erstarren im Kälteschock und ertrinken, weil sie nicht zu schwimmen beginnen. Bei anderen lässt der Schock nach wenigen Augenblicken nach. Meist folgt ein hektisches Hecheln. Verschluckt der Mensch dabei Wasser, kann er ebenfalls ertrinken. „Diese Sofortreaktionen des Körpers haben noch nichts mit einer Unterkühlung im eigentlichen Sinn zu tun“, sagt van Laak. „Die setzt erst in Phase zwei ein.“ 

In Phase zwei beginnt der Körper, das warme Blut im Rumpf zurückzuhalten, indem sich die Blutgefäße in der Haut und in den Armen und Beinen verengen. Vorrang hat jetzt die Durchblutung der lebenswichtigen Organe, vor allem des Herzens, der Lunge und des Gehirns. Der Pulsschlag verlangsamt sich. Der Betroffene wird schläfrig. „Die Gliedmaßen kühlen dann extrem schnell weiter aus“, sagt van Laak. Sinkt die Temperatur in den Muskeln auf unter 30 Grad Celsius, kann man sich kaum noch bewegen. „Je nach Kondition und Wassertemperatur kann man im kalten Wasser etwa eine halbe Stunde durchhalten, ehe die Muskeln versagen – ohne Rettungsweste ertrinkt man dann.“ 

Kühlt der Körper noch weiter aus, gleitet der Betroffene in Phase drei: Sobald die Temperatur im Körperinneren auf unter 28 Grad fällt, setzt das Herz aus. „Dann muss es wirklich schnell gehen“, sagt van Laak. „Wir müssen dann nonstop Herzmassage machen, damit das Blut weiter zirkuliert und das Gehirn minimal mit Restsauerstoff versorgt – und den Patienten schnellstens zu einer Herz-Lungen-Maschine bringen.“ 

Die Menschen, die nach dem Untergang der „Estonia“ im Wasser trieben, warteten lange auf Hilfe. Die Hubschrauber brauchten etwa eine Stunde, bis sie vor Ort waren. „Weil es damals so schnell gehen musste, zogen die schwedischen Flieger die Menschen einen nach dem anderen mit der Winde senkrecht aus dem Wasser“, sagt van Laak. „Bei der Bergung von Unterkühlten ist das grundfalsch – aber es ging damals einfach nicht anders.“ 

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mare No. 156

mare No. 156Februar / März 2023

Von Tim Schröder und Gregory Gilbert-Lodge

Seit dieser Recherche schaut der Oldenburger Autor Tim Schröder, Jahrgang 1970, immer zuerst nach den Flucht­wegen und Rettungsbooten, wenn er ein Schiff ­besteigt.

Als sporadischer Hobbysegler hat Gregory Gilbert-Lodge, Jahrgang 1967, Illustrator in Zürich, gro­ßen Respekt vor kaltem Wasser.

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Vita Seit dieser Recherche schaut der Oldenburger Autor Tim Schröder, Jahrgang 1970, immer zuerst nach den Flucht­wegen und Rettungsbooten, wenn er ein Schiff ­besteigt.

Als sporadischer Hobbysegler hat Gregory Gilbert-Lodge, Jahrgang 1967, Illustrator in Zürich, gro­ßen Respekt vor kaltem Wasser.
Person Von Tim Schröder und Gregory Gilbert-Lodge
Vita Seit dieser Recherche schaut der Oldenburger Autor Tim Schröder, Jahrgang 1970, immer zuerst nach den Flucht­wegen und Rettungsbooten, wenn er ein Schiff ­besteigt.

Als sporadischer Hobbysegler hat Gregory Gilbert-Lodge, Jahrgang 1967, Illustrator in Zürich, gro­ßen Respekt vor kaltem Wasser.
Person Von Tim Schröder und Gregory Gilbert-Lodge