Fahrt auf einem Eismeer
Von André Gide
Die Sonne ging auf, als wir mit unseren Gebeten begannen; das Meer glänzte im Widerschein; Strahlen glitten über die Wellen und die bewegten, zitternden Eisschollen erschauerten im Licht.
Um die Tagesmitte erschienen ein paar Wale; sie schwammen in einem Rudel, vor dem Packeis tauchten sie unter; weiter weg sah man sie wieder auftauchen; doch vom Schiff hielten sie sich fern.
Man musste sich jetzt vor den Eisbergen in acht nehmen; im noch nicht sehr kalten Wasser schmolz langsam ihre Basis; plötzlich sah man sie kentern, die prismenförmige Spitze brach ab, verschwand im bewegten Meer, wühlte das Wasser auf wie ein Sturm, kam mit Kaskaden an den Flanken wieder an die Oberfläche und schwankte, ihrer Lage ungewiss, noch lange im Tumult der Wogen. Das majestätische Getöse ihres Sturzes hallte auf den Fluten wider. Manchmal fielen Eiswände in aufspritzende Gischt, und all diese schwimmenden Berge veränderten unaufhörlich ihre Form.
Gegen Abend kam ein ganz großer, der nicht mehr durchsichtig war; wir hielten ihn zunächst für ein von riesigen Gletschern bedecktes neues Land. Bäche stürzten von seinen Gipfeln; Eisbären liefen am Rand entlang. Das Schiff fuhr so nahe daran vorbei, dass seine großen Rahen, wenn sie eine überstehende Kante streiften, dünne Eiszapfen abbrachen.
Es kamen Eisberge, die ungeheure, vom Heimatgletscher gelöste Steine bargen und so Stücke von unbekanntem Fels über die Wasser trugen.
Andere kamen, die sich in plötzlicher Affinität einander angenähert und Wale eingeschlossen hatten; diese schienen über dem Wasserspiegel in der Luft zu schwimmen. Über die Reling gebeugt, sahen wir dem Treiben des Packeises zu.
Der Abend brach herein. In der untergehenden Sonne schienen die Eisberge wie aus Opal. Neue kamen; sie führten gepresste Algen mit, dünn und lang wie Haare; man hätte sie für gefangene Sirenen halten können; dann wurde ein Geflecht daraus; der Mond hing darin wie eine Qualle im Netz, wie eine perlmutterne Seegurke; als er dann wieder frei in der Luft schwebte, färbte er sich azurn. Gedankenverlorene Sterne irrten umher, kreisten, tauchten ins Meer.
Um Mitternacht erschein ein riesenhaftes Schiff; der Mond beleuchtete es geheimnisvoll. Seine Takelung bewegte sich nicht; kein Licht auf Deck. Es fuhr nahe an uns vorbei; man hörte kein Fahrgeräusch und keinen Laut einer Schiffsmannschaft. Schließlich begriffen wir, dass es im Packeis gefangen war, zwischen zwei Wänden, die sich über ihm geschlossen hatten. So zog es ruhig vorüber und verschwand.
aus: Die Reise Urians
81. Grad nördlicher Breite
Von Alfred Andersch
treibeis-felder stoßen sich von der parry-insel ab
fog is coming
sagt skipper haakon godtlibsen
während er den eisanker löst
die mitternacht is vogelfederblau
das tauchgeräusch einer alke
bleibt stehen wie glas
klirrend
Bild: Lynn Davis, Fotografin
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