Einzigartig gleich

Warum zieht es uns trotz allen Strebens nach Individualität immer wieder an massenhaft belebte Urlaubsstrände? Ganz einfach: weil wir hier vom Inszenierungszwang befreit sind

Wir leben in einer Zeit des Massentourismus, der alltäglichen EasyJetter und des Erasmus-Europas. Für 19,99 Euro kann man von Deutschland an den Strand in Spanien fliegen. Das Reisen an sonnige Küsten erscheint längst billiger als ein Restaurantbesuch zu Hause. Der Massenkonsum, zu dem auch der Massentourismus zählt, ist ein essenzieller Teil unserer Gesellschaft.

Ikonenhafte Bilder dieser Entwicklung erschuf Martin Parr. Der britische Fotograf ist bekannt für seine Werke, auf denen er Einheimische und Touristen an überfüllten Meeresstränden, aber auch vor Touristenattraktionen, in Innenstädten und Museen porträtiert. Kaum ein anderer schafft es wie Parr, die Absurdität des Einzelnen in der Masse so tiefgründig, so surreal und humorvoll abzulichten.

Parallel zur Massengesellschaft entsteht zugleich aber auch ein dem entgegengesetzt scheinendes Phänomen, nämlich das soziokulturelle Credo des Bestrebens nach Individualität. Denn dieses Jahrzehnt gipfelt eben auch im Inszenierungswahn des Ich-Menschen, der Authentizität, Besonderheit und Unterscheidbarkeit in sich selbst sucht – dargestellt nicht zuletzt durch die Profile in sozialen Netzwerken, die Selfiekultur und eine wie auch immer geartete „kreative“ Lebensgestaltung. Und natürlich drückt sich die Ich-Inszenierung auch im Reiseverhalten aus.

Dieses Zeitgeistphänomen untersucht vor allem der Soziologe Andreas Reckwitz, einer der führenden deutschen Gesellschaftsforscher. Sein Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ untersucht scharfsinnig die progressive Erhöhung von Individualisierung hin zur Singularisierung während der letzten Jahre. Er stellt fest: „Singularisierung meint aber mehr als Selbstständigkeit und Selbstoptimierung. Zentral ist ihr das komplizierte Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist.“

Reckwitz spricht von einem „kuratierten Leben“ anstelle eines einfach gelebten. Es herrscht ein Kampf um Sichtbarkeit, vor allem in den Arenen der sozialen Medien. Singularität bedeutet aber nicht Einsamkeit. Im Gegenteil, das besondere Subjekt braucht den Applaus, die Likes und die Aufmerksamkeit der anderen, um sich als positiv different und singulär bestätigt zu fühlen. Die „sozialen Praktiken des Wahrnehmens, des Bewertens“ seien unabdingbar mit der Profilierung von (scheinbar) authentischer Einzigartigkeit verbunden.

Somit fungieren die sozialen Netzwerke auch als wichtige „Infrastruktur“ der singularisierten Gesellschaft. Nebenbei bemerkt: Zu Schaden kommt in dieser Entwicklung die nicht akademisierte Arbeiterklasse, die sich durch finanzielle und soziale Einschränkungen in ihrer Lebensweise weniger originell inszenieren kann und somit das Los des gesellschaftlichen Verlierers ziehen musste.

Die anderen, das heißt für Reckwitz die breite, akademisierte Mittelschicht, greifen auf kuratierbare Elemente ihres Lebensstils zurück, um das Prestige ihrer Unterscheidbarkeit zu erhöhen. Diese seien in großem Maß das Wohnen, das Essen, der Körper, die Erziehung und die (Schul-)Bildung sowie das Reisen. Letzterer Aspekt sei eine „zentrale und identitätsstiftende Beschäftigung des Subjekts der neuen Mittelklasse“.

Man wolle kein Pauschaltourist mehr sein, sondern ein authentischer Kulturentdecker, der globalisiert sei, Geheimtipps kennt und originelle Orte aufsucht. Dies schließe aber nicht aus, dass zwischendurch auch standardisierte Touristenattraktionen besucht werden. Der Zweck des Reisens sei es demnach, sein kulturelles Kapital zu vermehren, welches das besondere Ich auszeichnet.

Der Strandbesuch bleibt das beliebteste Must-do der Reisenden, egal ob Massentourist in einem Pauschalhotel oder Alternativentdecker. Ausgenommen den kleinen Prozentteil der Privatstrandbesitzer, treffen auf dem Sand fast alle aufeinander.

Auch wenn man Reckwitz’ Analysen in ihrer ausführlichen Gesamtheit zustimmen muss, scheint hier eine Ausnahme zu liegen. Denn die Strandsituation birgt fast unausweichliche, natürliche Gegebenheiten, die die Verhaltens- und Inszenierungsmöglichkeiten des Einzelnen einschränken beziehungsweise angleichen.

Aber wie verhalten sich Reckwitz’ Theorien nun gegenüber den Fotografien von Martin Parr? Anders gefragt: Was passiert, wenn das besonders originelle Ich-Profil an den Strand geht?


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mare No. 138

mare No. 138Februar / März 2020

Von Larissa Kikol

Larissa Kikol, geboren 1986, ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem für die Zeit und das Kunstmagazin Art. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.

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Vita Larissa Kikol, geboren 1986, ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem für die Zeit und das Kunstmagazin Art. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.
Person Von Larissa Kikol
Vita Larissa Kikol, geboren 1986, ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem für die Zeit und das Kunstmagazin Art. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.
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