Einsame Inselbegabung

Der Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn schrieb sein Monumentalwerk auf einem Bornholmer Gehöft. Ein Wiederentdeckung

Wenn man hügelauf fährt nach Bondegård, kurz das Auto anhält und sich umdreht zur See, meint man, der graue Himmel über Bornholm senke sich bis auf den Meeresgrund. Die laschen Wellen wirken wie Falten in einem unansehnlichen Gewand. „Tja, Hans-Henny-Jahnn-Wetter“, wird André Babinsky später sagen. Neben dem Feldweg, kurz vor dem Hof, erhebt sich ein Windrad, dessen Rotoren gespenstisch nah am Wagendach entlangsäbeln. Und nun ist man da, und alles sieht so aus, wie man es von alten Bildern kennt. Die vier Flügel des weißkalkigen Gebäudes. Die florentinerroten Läden der früheren Kornspeicher. Die zwei majestätischen Kastanien beidseits der Treppe, welche ins Wohnhaus führt. Das unebene Granitsteinpflaster, auf dem bei jedem Schritt die Knöchel knacken werden.

Babinsky wartet mit seiner Partnerin Katharina Brenn auf der Treppe und sagt nicht ohne Würde, dass sie sich sehr freuten über den ersten Gast ihrer bescheidenen Pension. Er bittet einzutreten. Im Vorraum ein gewaltiger Spiegel aus der Jahnn-Zeit. Im weiträumigen Hauptraum des Dichters Schreibtisch, aber auch ein blitzendes Schlagzeug. Im oberen Stockwerk vier spartanische, saubere Fremdenzimmer ohne Bad und Fernseher; ob das in Ordnung sei? Aber sicher. Da weicht das Würdevolle und schon auch Gezwungene aus Gesicht und Haltung Babinskys, und er sprudelt in breitem Sächsisch hervor, es hätte ja anders sein können, es wäre doch möglich, man sei enttäuscht, und man begreift, er war ernstlich aufgeregt gewesen. Er ist ein sympathischer Anfänger auf dem Gebiet der Unterbringung von Menschen, zumal von literarisch interessierten, vielleicht hochgestochen redenden, war denn nicht auch Hans Henny Jahnn voller Spleens gewesen?

Allein die Sache mit dem Miramon: Babinsky und seine Freundin wissen noch nicht viel über den Mann, in dessen einstigem Haus sie wohnen, aber dass er den Urin seiner Stute Mira konserviert und jedem Besucher zum Zwecke der hormonellen Kräftigung zu trinken aufgenötigt hat, das wissen sie. Manchmal, wenn noch Platz in den Reagenzgläsern war, so wird man im Laufe der nächsten Tage von zwei betagten Damen erfahren, haben Jahnns Bornholmer Knechte heimlich reingepinkelt und sich über den Kauz, der vorgab, ein Dichter zu sein, ins Fäustchen gelacht.

Sie hatten, was Hans Henny Jahnns Schreiben angeht, keine Ahnung. Noch heute wissen die meisten Menschen nichts von ihm, selbst in seiner Heimatstadt Hamburg. Wie dann erst auf Bornholm? „Fluss ohne Ufer“, sein vierbändiges, 2000-seitiges Werk für die Ewigkeit, ist nie ins Dänische übersetzt worden. Man übersetzt kein Buch, das schon im Original von nur wenigen gelesen wird, selbst wenn es auf einer hiesigen Insel, an einem genau bezeichneten Ort, eben in Bondegård, entstanden ist.

Ein paar Sätze aus dem uferlosen Fluss: „Schiffe gehen in die unbegrenzte Landschaft der Ozeane hinaus. In den Segeln ist etwas vom Flügelschlag weiser Vögel. Die Wolken scheinen daran zu hängen. Wenn die Seefahrt nicht dem schlimmen Überfall auf Wehrlose dient, ist sie schon tugendhaft.“ Betörend – und zugleich irreführend. Dieser Roman ist ein zutiefst hadernder, in Teilen langatmiger und pathetischer, er ist ebenso uneinheitlich wie verschlungen, eine unerhörte Maßlosigkeit. Also nicht lesen? Oh doch. Beginnen Sie brav mit Band I, dem „Holzschiff“. Eine noch halbwegs konventionelle, fast schnelle Geschichte. In einem ungenannten Hafen legt zu einer ungenannten Zeit ein Segelschiff namens „Lais“ an. Lais war eine betörende Hetäre im alten Athen, die Laeisz waren Hamburger Reeder und Kunstmäzene zu Lebzeiten von Jahnns Großvater, der Großvater war Schiffszimmermann, aber dies nur nebenbei. Der Segler nimmt mysteriöse Fracht an Bord. Verschlossen, finster der Superkargo, der das Verladen beaufsichtigt und später die Mannschaft sowie Ellena und Gustav ausspioniert. Ellena: Tochter des Kapitäns, Gustav: ihr Verlobter, sie entdecken labyrinthische Flure, Gänge, Schächte. Dann verschwindet Ellena. Viele suchen nach ihr, drängen zugleich, hinter das Geheimnis der Fracht zu kommen, man bricht im Kiel lagernde Kisten, zerspellt Holzwände, schlägt aus Versehen ein Leck, die „Lais“ sinkt und mit ihr die wahrscheinlich schon tot gewesene, die wohl ermordete Ellena, Gustav wenigstens überlebt.

Jener erste Teil entstand von 1934 bis 1947. Oberflächlich betrachtet, ist es die unheimliche Verdichtung eines Polizeistaats auf den klaustrophobisch engen Raum eines Schiffes. Naheliegend, an die Nazis zu denken, naheliegend auch, bei Unkenntnis von Jahnns persönlicher Geschichte zu schlussfolgern, der Mann sei vor den Nazis nach Bornholm geflüchtet. Das aber ist falsch. Bevor er 1934 umzog, erklärte er, dass er in Deutschland bloß „zu 1 % gefährdet“ sei. Ihn binde dort vieles. „Nicht nur im Augenblick die Familie. Auch die unaussprechlichen Dinge.“ Aber er hatte kein Auskommen. Als Orgelbauer, der er eigentlich war, bekam er keine Aufträge. Und er war getrieben von einer Sehnsucht nach autarkem, natürlichem Leben, nach einer eigenen Scholle, nach Geborgenheit, die im Abgeschiedenen gedeiht. Bornholm, so hoffte er, werde ihm all das bieten. Unmittelbar vor dem Einzug in Bondegård schrieb er einem Freund: „Das Meer ist herrlich. Das Vieh strömt Ruhe aus. Die Insel glänzt in Farben.“


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mare No. 126

No. 126Februar / März 2018

Von Birk Meinhardt und Mirjam Siefert

Birk Meinhardt, Jahrgang 1959, Schriftsteller und Reporter, war schon mehrmals auf Bornholm und hat Fluss ohne Ufer zweimal, in Teilen noch öfter gelesen. Er begreift bis heute nicht, wieso er erst jetzt auf die Idee kam, nach Spuren des Dichters auf der Insel zu suchen. Fotografin Mirjam Siefert, Jahrgang 1978, lebt in Berlin. Sie mag Inseln, aber auf Bornholm wurde ihr bewusst, dass man sehr gut mit sich selbst klarkommen muss, um dort der Einsamkeit zu begegnen.

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Vita Birk Meinhardt, Jahrgang 1959, Schriftsteller und Reporter, war schon mehrmals auf Bornholm und hat Fluss ohne Ufer zweimal, in Teilen noch öfter gelesen. Er begreift bis heute nicht, wieso er erst jetzt auf die Idee kam, nach Spuren des Dichters auf der Insel zu suchen. Fotografin Mirjam Siefert, Jahrgang 1978, lebt in Berlin. Sie mag Inseln, aber auf Bornholm wurde ihr bewusst, dass man sehr gut mit sich selbst klarkommen muss, um dort der Einsamkeit zu begegnen.
Person Von Birk Meinhardt und Mirjam Siefert
Vita Birk Meinhardt, Jahrgang 1959, Schriftsteller und Reporter, war schon mehrmals auf Bornholm und hat Fluss ohne Ufer zweimal, in Teilen noch öfter gelesen. Er begreift bis heute nicht, wieso er erst jetzt auf die Idee kam, nach Spuren des Dichters auf der Insel zu suchen. Fotografin Mirjam Siefert, Jahrgang 1978, lebt in Berlin. Sie mag Inseln, aber auf Bornholm wurde ihr bewusst, dass man sehr gut mit sich selbst klarkommen muss, um dort der Einsamkeit zu begegnen.
Person Von Birk Meinhardt und Mirjam Siefert