Eins und eins gleich eins

Das Beobachten von Bewegungen des Meeres, von Brechungen des Wassers und seinen durchscheinenden Impressionen fasziniert Filmemacher seit der Erfindung des Kinematografen

Seit der Erfindung des Kinematografen im Jahr 1895 ist Wasser eines der beliebtesten Motive der Filmemacher. Schon in den frühesten Filmen tauchen Bilder von Wasser auf, in denen es nicht bloß Gegenstand der Handlung oder Erzählung ist, sondern Motiv, Gegenstand des Filmbilds. Welche tieferen Gründe hat diese Nähe von Bewegtbild und Wasser? Was bietet das Wasser den Regisseuren, welche Möglichkeiten und Reflexionsräume eröffnet es? Was können wir aus dieser Verbindung über das Wasser und den Film lernen?

Als flüssiges Medium und flüchtiges Fluidum bietet sich Wasser für verschiedenste Gestaltungen geradezu an. Es hat keine festgelegte Form, tritt aber immer in Formen auf, als Regen, Eis, Meer, Fluss, Strahl, Tropfen, spiegelnde Oberfläche, als Lache, Pfütze, See, Welle, Strömung, Brandung, Gischt, Dunst, Nebel, Strudel, als Träne, Getränk, Schnee, Tau, Fontäne. All dies sind Erscheinungsformen des überaus wandlungsreichen Wassers, die bei aller Unterschiedlichkeit einige Eigenschaften teilen.

Das an sich strukturlose Wasser muss eine Struktur bekommen, um selbst sichtbar zu werden. Dies geschieht entweder durch wassereigene Bewegungen wie Wellen, Strömungen oder Verwirbelungen oder durch Gegenstände, Flüssigkeiten oder Spiegelungen im Wasser. Wird es dargestellt, kann es sich auch selbst zum Gegenstand machen: Die Bewegungen des Wassers sind selbst Wasser. Bewegung ist dem Wasser eigen. Wasser in sich ist immer bewegt. Es ist oftmals durchscheinend und transparent. So kann es das ausstellen, was sich in ihm befindet. Wasser ist, um eine Formulierung des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel aufzunehmen, „das noch nicht Besondere“. Es steht für Unbestimmtes, Unbestimmbares oder Gegensätze von Festem und Fließendem. Das Wasser ist offen für verschiedenste Formen: Es hat keine inneren Maßstäbe, keinen Mittelpunkt und keine feste Form. Stattdessen ist Wasser ein Milieu für ziellose Bewegung, deren „Lebensraum“ und Ort ihrer Entfaltung.

Das Medium Film, dessen Möglichkeiten bis heute ausgelotet werden, eröffnete der Bewegung ein neues Feld. Film hält Zeit in Bewegung fest. Das ist es, was die Regisseure interessiert. Ob die Verfolgungsjagden des ersten „Actionfilms“ „Der große Eisenbahnraub“, den Edwin S. Porter 1903 drehte, oder die expressive Veränderlichkeit von Mimik und Ausdruck in den Nahaufnahmen von Schauspielern, die in den 1910er und 1920er Jahren in fast jedem Film vorkommen: Der neue Zusammenhang von Zeit und Bewegung wird ausgetestet und ausgekostet. Man kann Dinge oder Menschen als in der Zeit existierende und damit als bewegliche zeigen. Film mag mit der Fotografie den Eindruck teilen, die Welt so abzubilden, wie sie ist. Aber Film zeigt, wie die Welt sich dreht.

Der niederländische Experimentalfilmer Joris Ivens arbeitete Ende der 1920er Jahre zwei Jahre lang in Amsterdam und an der Nordsee an einem zehnminütigen Schwarz-Weiß-Film mit dem Titel „Regen“, einem der Flüssigkeit gewidmeten Filmgedicht. Er probierte alle Verfahren aus, Wasser sichtbar zu machen. Seine Bildpoesie ist angefüllt mit Spielen von Wasser und Licht, in denen sich Zeit bricht und ihr Zusammenhang verfließt, sodass es nichts weiter gibt als Bewegung. Wenn in „Regen“ Menschen oder Dinge zu sehen sind, so immer durch Schleier von Wassertropfen an Fensterscheiben, als Spiegelungen oder Reflexionen.

Das Beobachten von Wellen und Bewegungen der Wasseroberfläche, von Brechungen und durchscheinenden Impressionen hat Filmemacher von Anbeginn fasziniert. Diese Faszination ist aber nicht allein eine visuelle Affektion, wie sie jeder kennt, der einmal lange am Strand oder an einem nächtlichen Seeufer gesessen hat. Was die Filmemacher vielmehr zu begeistern scheint, ist eine Ähnlichkeit zweier Medien, des Filmes und des Wassers. Denn Wasser wie Film gibt es nur in Bewegung, und Wasser selbst ist, wie das Filmmaterial, unsichtbar und durchsichtig. Film macht, eben weil er unbelichtet durchsichtig ist, anderes sichtbar. Mittels chemischer Prozesse und Licht erscheinen auf dem Filmmaterial Bilder, die – in einer Geschwindigkeit von 24 Bildern je Sekunde projiziert und unsere Wahrnehmung austricksend – eine Bewegung erscheinen lassen. Film besteht in materieller Hinsicht aus aneinandergehefteten Einzelbildern. Film im Kino, gezeigter und gesehener, also erfahrener Film, besteht aus dem, was diese Einzelbilder zu einer Bewegung werden lässt. Kino muss nicht so verstanden werden, dass es die Welt abbildet und zeigt, indem es die Bilder lediglich bewegt.

Das Ereignis des Filmes, so könnte man behaupten, ist die Einführung der Bewegung in das Bild. Der Film vollzieht die Synthese von Bewegung und Bild. Er setzt sie uns auf der Leinwand gegenüber. Das Filmbild ist Bewegungsbild, und darin unterscheidet es sich von altbekannten Bildern. Film ist also wie das Wasser ein Milieu für Licht und Bewegung, für die Beweglichkeit der Bewegung. Das zeigt Joris Ivens in seinem Film in aller Ausführlichkeit.

Wasser hat Rhythmus, weil es sich bewegt, und Film braucht Rhythmus, weil er Dinge nur als bewegte und in der Zeit verankerte zeigen kann. In „Regen“ rinnt Wasser durch alle Gefüge, besetzt und benetzt jedes Bild. Und so verlernt man mit Ivens’ Hilfe das Unterscheiden zwischen der „wirklichen Welt“ und ihrer Reflexion. Man beginnt, die Welt durchs Wasser zu sehen – und all das im Film, der zu dieser Zeit als Reflexion eben dieser „wirklichen Welt“ verstanden wurde.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 81. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 81

No. 81August / September 2010

Von Florian Sprenger

Florian Sprenger, geboren 1981, ist Medienwissenschaftler und Philosoph. Er promoviert über die Mediengeschichte der Elektrizität. Seit 2007 ist er Kollegiat im Initiativkolleg „Sinne – Technik – Inszenierung: Medien und Wahrnehmung“ der Universität Wien. Film ist – wie das Wasser – schon immer seine Leidenschaft gewesen, die Verbindung der Philosophie mit dieser Kunst und diesem Element liegt ihm besonders am Herzen.

Mehr Informationen
Vita Florian Sprenger, geboren 1981, ist Medienwissenschaftler und Philosoph. Er promoviert über die Mediengeschichte der Elektrizität. Seit 2007 ist er Kollegiat im Initiativkolleg „Sinne – Technik – Inszenierung: Medien und Wahrnehmung“ der Universität Wien. Film ist – wie das Wasser – schon immer seine Leidenschaft gewesen, die Verbindung der Philosophie mit dieser Kunst und diesem Element liegt ihm besonders am Herzen.
Person Von Florian Sprenger
Vita Florian Sprenger, geboren 1981, ist Medienwissenschaftler und Philosoph. Er promoviert über die Mediengeschichte der Elektrizität. Seit 2007 ist er Kollegiat im Initiativkolleg „Sinne – Technik – Inszenierung: Medien und Wahrnehmung“ der Universität Wien. Film ist – wie das Wasser – schon immer seine Leidenschaft gewesen, die Verbindung der Philosophie mit dieser Kunst und diesem Element liegt ihm besonders am Herzen.
Person Von Florian Sprenger