Einmal zu sich selbst und zurück

Wer irgendwie unzufrieden ist und sich selbst sucht, der sollte um die Welt reisen. So lautet die große Erzählung. Stimmt das?

Die Reise ist das Ziel! Ein kurzer Satz, der seit Jahrtausenden schon viel erzählt hat. Dabei geht es hier es um mehr als um einen bloßen Ratschlag. Ein ganzes philosophisches, spirituelles und psychologisches Konzept steckt dahinter, von antiken Mythen über Erzählungen der Romantik bis zu zeitgenössischer Literatur und für die breite Masse angelegte Selbstoptimierungstipps. Wer hat nicht schon alles auf der Reise, also auf dem Weg gelernt? „Hoffe, dass der Weg lang sei / Voll Sommermorgen, wenn du, / Mit welchem Vergnügen, mit welcher Freude, / In bisher unbekannte Häfen einfährst“, schrieb der griechische Dichter Konstantinos Kavafis zu Beginn des 20. Jahrhunderts über den Mythos der Insel Ithaka, zu der ein Mann aufbricht, um auf seiner Reise weise zu werden. 

Viel hat sich daran bis heute nicht geändert. Reisende ­suchen – und das besonders oft auf dem und an dem Meer – nach Klarheit, Entscheidungswillen zur Lebensänderung, Selbstbewusstsein, Ichwerdung, Weisheit. Alles in allem nach einer besseren Version des eigenen Selbsts. Die Reise als kultureller Topos über die eigene Entwicklung ist so verbreitet, dass auch Veranstalter sie als Marketing aufgreifen, ob es nun um Mitsegeltörns geht, Work-and-Travel-Programme, Au-pair-Aufenthalte, Kreuzfahrten oder die EasyJet-Welle. Wer irgendwie unzufrieden ist und sich selbst suchen will, der sollte reisen. So lautet die große Erzählung. 

Falsch ist das wohl nicht, sonst hätte dieser Stoff nicht Jahrtausende für immer neue Versionen und Ausschmückungen gesorgt. Buddha, genauer: Siddhartha Gautama, musste Jahre als Wanderer leben, um zu Weisheit und philosophischer Einsicht zu gelangen. Und der Mythos von Ithaka geht auf den griechischen Dichter Homer zurück, der um die Wende vom achten zum siebten vorchristlichen Jahrhundert das Epos des Königs Odysseus schrieb. Dieser kehrt nach einem Krieg zurück in seine Heimat, allerdings dauert die Schiffsreise, die ihn über viele ­Inseln und Häfen nach Hause führt, zehn Jahre, eine Irrfahrt, während der er unglaubliche Abenteuer erlebt, die ihn stärken. 

Heute bedienen sich Reality-TV-Serien munter des Mythos des (See-)Reisenden, der nach seinen Abenteuern gewandelt zurückkommt. Natürlich auf anderem Niveau – auf diese Art werden neue Frisuren etabliert, neue Modestyles vorgeführt, dazu neue Berufswünsche und frische Energie für Intrigen und Skandale. Oft ist die „Wandlung“ derart plump, dass es bestenfalls als Trashwitz durchgeht.

Etwas weniger oberflächlich gründet der zeitgenössische ­Autor Paulo Coelho seine Romane auf dem Narrativ der Reise, während der Wahrheiten über Leben, Sinn und elementare Erkenntnisse gewonnen werden. In seinem Bestseller „Der Zahir“ sucht ein Ehemann seine Frau, die unerwartet und wortlos verschwunden ist. Als der Mann endlich einen Hinweis bekommt, wo sie sich aufhält, geht er nicht sofort zu ihr, um Antworten zu finden. Er begibt sich vorher auf eine Reise zu sich selbst, um ihr später geläutert gegenüberstehen zu können. Passenderweise ­zitiert auch Coelho das Ithaka-Gedicht des reisenden Seefahrers zu Anfang seines Romans. 

Und natürlich kann das alles klappen, kann das immer weiter vererbte Versprechen eingelöst werden. Auf einer Seereise, auf einem Segelboot im Meer kann man sich finden. Man kann von seinem Gewohnheits-Ich Abstand nehmen, es kritisch reflektieren, man kann sogar mit Änderungen anfangen. Man spürt sich selbst plötzlich präsenter und intensiver, weil das Selbst nicht mehr in seinen eingefahrenen Rollen im Beruf, in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft oder in der Beziehung eingewebt ist. Kann es sich aus diesen Strukturen lösen, ist es freier zugänglich und formbarer, bereit für die eigene psychologische Arbeit an sich selbst. 
Auf der geografischen Reise kommen auch die Erfahrungen hinzu, die man meistert und überlebt. 
Letzteres gilt nicht zwangsläufig für konkret lebensbedrohliche Situationen, sondern im Sinn eines Durchlebens und Mitnehmens in zukünftige ­Lebensabschnitte. Das kann mit einem Sprung vom Felsen ins Meer beginnen, auch ein Tauchgang, ein Segelschein oder die Selbstversorgung durch Fischfang helfen sicherlich. Durch all dies entsteht neues Selbstbewusstsein. Daran ist zunächst nichts kritikwürdig.

Problematisch wird es aber dann, wenn der Reisemythos und die persönlichen Ziele vereinfacht und verkürzt werden und am Ende zu einem vermeintlichen Überlegenheitsgefühl führen. Mit Verkürzung ist hier aber nicht der zeitliche Rahmen gemeint, sondern die Vorstellung, dass solche Ziele einfach oder sogar automatisch erreicht werden. Waren es vor eini­gen Jahrzehnten noch Spanien oder Griechenland, die als fremd­artige Reiseländer galten, sind heute Ozeanien, Fernost oder Südamerika für viele junge Menschen und Reiselustige ­geläufige und – überraschenderweise – auch schnell abzu­steckende Ziele. 


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mare No. 161

mare No. 161Dezember 2023 / Januar 2024

Von Larissa Kikol

Larissa Kikol, geboren 1986, ist promovierte Kunstwissenschaftlerin und arbeitet als freie Kunst­kritikerin und Hochschuldozentin. Sie schreibt unter anderem für „Kunstforum International“, „Monopol Online“, „Die Zeit“, „art“, „Die Kunstzeitung“, „Spiegel Online“ oder „Halle 4“. Ihr jüngstes Buch „Nutzt die Kunst aus! Eine Einladung. Über Engagement und Kulturwerkzeuge“ erschien 2023 beim Verlag Kettler.

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Vita Larissa Kikol, geboren 1986, ist promovierte Kunstwissenschaftlerin und arbeitet als freie Kunst­kritikerin und Hochschuldozentin. Sie schreibt unter anderem für „Kunstforum International“, „Monopol Online“, „Die Zeit“, „art“, „Die Kunstzeitung“, „Spiegel Online“ oder „Halle 4“. Ihr jüngstes Buch „Nutzt die Kunst aus! Eine Einladung. Über Engagement und Kulturwerkzeuge“ erschien 2023 beim Verlag Kettler.
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Vita Larissa Kikol, geboren 1986, ist promovierte Kunstwissenschaftlerin und arbeitet als freie Kunst­kritikerin und Hochschuldozentin. Sie schreibt unter anderem für „Kunstforum International“, „Monopol Online“, „Die Zeit“, „art“, „Die Kunstzeitung“, „Spiegel Online“ oder „Halle 4“. Ihr jüngstes Buch „Nutzt die Kunst aus! Eine Einladung. Über Engagement und Kulturwerkzeuge“ erschien 2023 beim Verlag Kettler.
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