Eingriff in das System Ozean?

Das Meer bindet 25 Prozent des menschengemachten Kohlendioxids – und ist somit eine maßgebliche Bremse der Klimaerwärmung. Im „WOR 8“ geht es nun um die Frage: Müssen wir diesen natürlichen Speicher künstlich erweitern, um unseren Planeten zu retten?

Die gute Nachricht zuerst: Nie zuvor in der über zwölfjährigen Geschichte des „World ­Ocean Review“ (WOR) war die frei erhältliche Meerespublikation der gemein­nüt­zi­gen Organisation maribus so dicht am Puls der Zeit wie mit ihrer neuen, achten Ausgabe. Die schlechte Nachricht ist: Keine der bisherigen WOR-Ausgaben hat ihre Leser mit so vielen offenen Fragen zurückgelassen, wie es der neue WOR tun wird. In dieser Ausgabe geht es nämlich um nichts Geringeres als um die Fragen, wie die Menschheit den Klimawandel und seine drastischen Auswirkungen mit gezielten Eingriffen in das System Ozean eindämmen könnte und ob wir bereit wären, die damit verbundenen Risiken für Mensch und Umwelt in Kauf zu nehmen. 

Um es vorwegzunehmen: Der Klimawandel stellt die größte Bedrohung für unseren Planeten dar. Soll der Ozean in naher Zukunft einen noch größeren Beitrag zu seiner Minderung leisten, werden Maßnahmen im kleinen Maßstab nicht ausreichen. Stattdessen wird eine neue Kohlendioxid-Entnahmeindustrie entstehen müssen, die das Landschaftsbild in den betroffenen Meeres- und Küstenregionen verändern wird. Zugleich werden wir Menschen massiv in die natürlichen Prozesse des Ozeans eingreifen müssen, und das für einen sehr langen Zeitraum.

Wir haben uns in Sachen Klima in eine Sackgasse manövriert. Es gibt nur einen Ausweg aus der Krise, und dieser führt über einen Stopp aller menschengemachten Treibhausgasemissionen – bestenfalls bis 2050, wenn die globale Erwärmung bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf ein Minimum von 1,5 Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit begrenzt werden soll. Jedes Zehntelgrad mehr ­bedeutet überproportional größere Schäden und höhere Kosten. Die weltweiten   Rekordtemperaturen, Waldbrände, Überschwemmungen und Korallenbleichen dieses „Sommers der Extreme“, wie Meteorologen den Juni und Juli 2023 nannten, waren nur ein Vorgeschmack. 

Klimaforscher gehen davon aus, dass die Menschheit selbst bei ambitionierter Klimapolitik (die wir bislang nicht sehen) im Jahr 2050 noch immense Restmengen an Kohlendioxid (CO2), Methan und Lachgas freisetzen wird. Diese müssen ausgeglichen werden, indem wir der Atmosphäre eine aus Klimaperspektive gleichwertige Menge CO2 entziehen – die Rede ist von Hunderten Milliarden Tonnen bis zum Ende dieses Jahrhunderts. 

Solche Entnahmeverfahren werden als Carbon Dioxide Removal (CDR) bezeichnet. Es gibt biologische, chemische und geo­chemische CDR-Verfahren, sowohl für einen Einsatz an Land als auch im Meer. 

Meeresbasierte Lösungen scheinen auf den ersten Blick vielversprechend. Der Ozean ist der zweitgrößte Kohlenstoffspeicher unseres Planeten. Er hat in den zurückliegenden Jahrzehnten rund 25 Prozent der vom Menschen ausgestoßenen CO2-Menge auf natürliche Weise
aufgenommen und die globale Erwärmung so maßgeblich gebremst. 

Wie sich dieser Klimaservice durch marines CDR verstärken lässt, wird derzeit in verschiedenen Forschungsprojekten untersucht. Noch ist für viele Einzelmethoden gar nicht geklärt, wie hoch die zusätzliche CO2-Entnahme sein könnte und wie die damit verbundenen Risiken aussehen. 

Solchen Fragen gehen Forscher etwa in „CDRmare“ nach, einer Forschungsmission der Deutschen Allianz Meeresforschung. An ihr sind rund 200 Fachleute aus 22 Partnerinstitutionen beteiligt. Neu dabei ist, dass die Forschung von Anfang an interdisziplinär ausgerichtet ist. Das heißt, die Wissenschaftler untersuchen sowohl zentrale naturwissenschaftliche Aspekte als auch relevante wirtschaftliche, rechtliche, soziale und politische Prozesse und wie sich diese gegenseitig beeinflussen. Themen wie eine gerechte Lastenverteilung im Fall negativer Auswirkungen werden ebenfalls gleich mitbedacht.

Die ersten Zwischenergebnisse der „CDRmare“-Mission werden für den Sommer 2024 erwartet. Für den neuen WOR aber haben uns die führenden Experten schon jetzt Einblicke in ihre Arbeit gewährt. Der neue WOR erläutert, ob gezielte CDR-Eingriffe unvermeidlich sind und welchen Beitrag Pflanzen und Böden an Land dabei leisten können. Im Anschluss stellt er das aktuelle Wissen zu fünf vielversprechenden meeres­basierten Verfahren vor. Dazu zählen: die Ausweitung vegetationsreicher Küstenökosys­te­me, eine Steigerung der Biomasseproduktion durch künstlichen Auftrieb, Methoden zur Alkalinitätserhöhung des Ozeans sowie zwei Ansätze zur Speicherung von abgeschiedenem CO2 in tief liegenden Gesteinsschichten unter dem Meer, wobei Letztere nur dann als Entnahmeverfahren gelten, wenn das abgeschiedene CO2 aus der Atmosphäre stammt. Außerdem erläutern die Wissenschaftler, welche Regeln im Fall eines Einsatzes meeresbasierter CDR-Verfahren unbedingt berücksichtigt werden müssten und mithilfe welcher Übereinkommen entsprechende Projekte gesteuert, reguliert und überwacht werden könnten. 

Eine Aussage kann dabei nicht oft genug wiederholt werden: Es ist allerhöchs­te Zeit, dass wir in der breiten Öffentlichkeit über die Dringlichkeit wirksamer Klimaschutzmaßnahmen diskutieren. Wir müssen darüber streiten, ob gezielte Eingriffe in den Ozean zielführend und akzeptabel sind. Alle, die mitreden und mitstreiten wollen, finden im neuen WOR viele Fakten und passende Argumente für die anstehenden Debatten. 
Ein kostenloses Exemplar des „WOR 8“ können Sie bestellen unter www.worldoceanreview.com.

mare No. 161

mare No. 161Dezember 2023 / Januar 2024

Von Sina Löschke

Sina Löschke hat das Medien- und Kommunikationsgeschäft an der Universität Hamburg sowie an der Henri-Nannen-Journalistenschule von der Pike auf gelernt und später auf beiden Seiten der Wissenschaftskommunikation gearbeitet: zuerst zehn Jahre lang als Wissenschaftsredakteurin im GEO-Kindermagazin GEOlino, später als stellvertretende Pressesprecherin des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Sie betreibt das Redaktionsbüro Schneehohl.

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Vita Sina Löschke hat das Medien- und Kommunikationsgeschäft an der Universität Hamburg sowie an der Henri-Nannen-Journalistenschule von der Pike auf gelernt und später auf beiden Seiten der Wissenschaftskommunikation gearbeitet: zuerst zehn Jahre lang als Wissenschaftsredakteurin im GEO-Kindermagazin GEOlino, später als stellvertretende Pressesprecherin des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Sie betreibt das Redaktionsbüro Schneehohl.
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Vita Sina Löschke hat das Medien- und Kommunikationsgeschäft an der Universität Hamburg sowie an der Henri-Nannen-Journalistenschule von der Pike auf gelernt und später auf beiden Seiten der Wissenschaftskommunikation gearbeitet: zuerst zehn Jahre lang als Wissenschaftsredakteurin im GEO-Kindermagazin GEOlino, später als stellvertretende Pressesprecherin des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Sie betreibt das Redaktionsbüro Schneehohl.
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