Einer wird sterben

1765 übersteht ein Schiff nur knapp einen Sturm auf dem Atlantik. Die hungernde Crew steht vor einer furchtbaren Entscheidung

Der Sturm kommt an einem Mittwoch. Es ist der 29. Oktober 1765, und in den nächsten Wochen wird die neunköpfige Crew der „Peggy“ kaum etwas anderes sehen als tosende Wellen. Ein Mast nach dem anderen bricht, Segel werden in Stücke gerissen, durch Löcher im Schiffsboden dringt Wasser ein. Die „Peggy“, ein einfaches Schiff mit nur einem Deck, soll Wein und Brandy von den Azoren nach New York bringen. 40 Tage hat Kapitän David Harrison dafür eingeplant. Ihm ist bereits vor der Abfahrt klar gewesen, dass ihn womöglich eine schwierige Fahrt erwarten würde, denn er weiß um die Stürme, die zu dieser Jahreszeit oft über den Atlantik fegen. Doch sie übertreffen diesmal alle Befürchtungen.

Als sich die Wellen Anfang Dezember endlich etwas legen, hat die „Peggy“ nur noch ein Segel und befindet sich auf halber Strecke zwischen Nordamerika und den Azoren, fernab vom nächsten Hafen.  Bei einem erneuten Sturm wird auch noch das letzte Segel zerrissen; die „Peggy“ ist nun endgültig manövrierunfähig. „Nur ein Wunder konnte uns vor dem Untergang bewahren“, wird Harrison später in seinen Erinnerungen schreiben. Seine Männer werden in den Wochen, die jetzt folgen, hungern und Dinge essen, von denen sie nicht gedacht hätten, dass sie essbar sind. Und sie werden etwas tun, das sie niemals für möglich gehalten hätten: Sie werden Menschenfleisch verzehren.

Die Fahrt der „Peggy“ fällt in eine Zeit, in der der Handel zwischen Europa und Amerika auf Hochtouren läuft. Wein ist dabei erst vor Kurzem zu einem begehrten Importprodukt geworden; vor allem aus Madeira wird er eingeführt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablieren sich erstmals auf Wein spezialisierte Händler, Gespräche über Beschaffenheit und Qualität von Wein entwickeln sich zum wichtigen Teil der Tischkonversation.

Die Ladung der „Peggy“ soll an einen wohlhabenden New Yorker Händler namens William Malcolm geliefert werden. Sie wird niemals ankommen – doch der Crew an Bord des Schiffes rettet sie das Leben. Denn den Männern auf der „Peggy“ ist kaum Proviant geblieben. Sie ernähren sich von Brotresten; Fische zu fangen gelingt ihnen nicht. Und in nur einem einzigen Fass finden sich noch – völlig verschmutzte – Wasserreste.

Das Fass wird Kapitän Harrison zugeteilt, der die meiste Zeit geschwächt und krank in seiner Kabine liegt. Seine Crew dagegen greift zu Wein und Brandy. Der Alkohol bewahrt sie vor dem Verdursten. Und wahrscheinlich betäubt er auch die Verzweiflung. Denn die Männer haben schon zwei Schiffe an sich vorbeiziehen sehen müssen – eines fuhr von Jamaica nach London, das andere von New York nach Dublin. Wegen des Sturmes war eine Kontaktaufnahme nicht möglich. Und sich aus eigener Kraft den möglichen Lebensrettern zu nähern, dazu war die „Peggy“ nicht mehr in der Lage.

Dann kommt der Weihnachtstag des Jahres 1765 – und plötzlich wird ein Segel am Horizont gesichtet. Alle Augen sind hoffnungsvoll auf das fremde Schiff gerichtet. Naht endlich Rettung? Als das Schiff sich auf Rufweite angenähert hat, berichten die Männer von ihrer großen Misere. Doch die fremde Crew fürchtet um das eigene Leben. Was ist, wenn das Aufnehmen mehrerer halb toter Männer das Todesurteil für alle bedeutet? Auch ihre Vorräte sind schließlich knapp bemessen.

Zwar beschwört Kapitän Harrison, er und seine Männer wollten lediglich heil an Land zurückgebracht werden. Zwar verspricht er, sie würden die Lebensmittel der anderen Crew nicht anrühren, solange nur der Heimweg gesichert sei. Doch der Kapitän des anderen Schiffes lässt sich davon nicht überzeugen – er will den hungern- den Männern lediglich etwas Zwieback zukommen lassen, mehr könne er nicht entbehren. Allerdings, so fügt er hinzu, werde er erst noch seine mittägliche nautische Beobachtung beenden. Danach werde er das Essen hinüberbringen lassen.


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mare No. 115

No. 115April / Mai 2016

Von Marike Frick und Jörg Hülsmann

Marike Frick, Jahrgang 1980, Autorin in Genf, liebt Schifffahren. Dass ihr dabei einmal der Proviant ausgeht, ist unwahrscheinlich, schon weil sie zwei sehr hungrige Kinder hat und immer zu viel einpackt.

Jörg Hülsmann geboren 1974, arbeitet als freier Illustrator für Buchverlage, Magazine und Zeitungen.

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