Eine wegweisende Erfindung

Der Kompass – wie kaum einem anderen Gegenstand verdankt die Seefahrt ihm sichere Fahrt und glückliche Heimkehr. Dabei war der Überlebenshelfer auf See einst erdacht fürs Reisen zu Lande

Es war Nacht geworden. Die Lichter von Kopenhagen flammten und verschoben sich langsam: Die ‚Notre Dame‘ fiel ab. Langsam, unendlich langsam glitt sie der Ausfahrt zu. Vorn klommen zwei Männer die Treppen zur Back hinauf, der eine mit einer roten, der andere mit einer grünen Laterne. Man sah nur die Laternen, es war, als schwebten sie durch Zauberei. Das schönste Rot, das schönste Grün der Welt, dachte Jorg. Er wandte sich um und sah, dass auch die Kompasslaterne brannte, und in dem schwachen gelben Licht erschien geisterhaft der Mann, der stille, wachsame Mann am Ruder, die Augen wechselnd auf Kompass und Segel gerichtet, die Hände fest um die Spaken gelegt. Kurs war Nord zu Ost, halb Ost.“

Heinrich Hauser, der unstete, abenteuerhungrige, seewütige Schriftsteller und Journalist, hat diese Bilder aufgeschrieben. Beim Lesen wird die eigene Erinnerung wach: Es war November und meine zweite Fahrt auf der „Tryggvason“, einem alten, hölzernen norwegischen Logger mit Gaffelsegeln, der früher vor den Lofoten gefischt hatte und jetzt Charter in der Ostsee fuhr. Ich kannte Schiff und Skipper von blauen Sommertagen, die endlos waren und hell, von langen Hafenabenden und kurzen Nächten dazwischen. Jetzt wollten wir das Schiff ins Winterlager nach Norwegen bringen, jetzt waren die Tage kurz, die Yachthäfen verwaist, die Schlengel abgebaut, die Waschräume verschlossen, die einzigen Segel auf der weiten See unsere.

In Skagen, der nördlichsten Stadt Dänemarks, machten wir nach einem langen Segeltag im Fischereihafen fest, konnten endlich duschen und wollten vor der Weiterfahrt zwei Tage bleiben. Aber dann gab es die neuesten Wetteraussichten. Der Wind sollte von West auf Nord drehen, zum Sturm werden, die Temperatur fallen. Schneeschauer, schlechte Sicht. Gefangen! Allerdings konnten wir es vor dem Sturm noch schaffen bis an die norwegische Küste, aber dann durften wir keine Minute Zeit verlieren. Ein Restrisiko blieb.

Also los! Gegen Mitternacht glitt die „Tryggvason“ hinaus auf das schwarze Skagerrak, hinein in düstere Einsamkeit. Lichtlos die Nacht und das Meer, kaum ein Fischer unterwegs, keine Sterne, nur der grüne und rote Widerschein der petroleumbetriebenen Positionslampen auf dem vorbeiströmenden Wasser und das Glimmen des Kompasslichts. Der Wind fing an, leicht zu drehen, und das Steuern wurde schwierig. Zu viel Höhe, und die Segel begannen zu killen, zu starkes Abfallen, und das Schiff kam vom Kurs ab. Wechselnder Blick auf Kompass und Segel. Wer würde schneller sein, der Sturm oder wir? Wir waren gleichzeitig müde und angespannt, beklommen und erregt. Es war meine erste Nachtfahrt unter Segeln. Aber da war dieses schwache gelbe Licht, das die sanft schaukelnde Kompassrose erleuchtete; sie wies uns den Weg und schenkte Zuversicht. Wie die Hand des Vaters auf der Schulter des Kindes beim Gang durch den dunklen Wald.

Tausende, Zehntausende Seeleute haben auf diese Kompassrose geblickt wie auf einen Altar. Ein Kompass hat etwas Heiliges. Er ist ein Ort der Transsubstantiation, ein Kelch, in dem sich Ziffern in Zuversicht verwandeln. Führe mich, o Herr, und leite meinen Weg nach deinem Kurs. Zu allen Tages- und Nachtzeiten, bei Sturm und Flaute, Nebel und Gischt. Der Kompass ist der Nabel des Schiffes, der Wegweiser, der Freund und Garant fürs Überleben. „Der Junge nahm die Haube vom Kompass ab und legte sie zur Seite. Licht fiel über sein Gesicht, als er sich über das Kompassgehäuse beugte. Er war unrasiert und abgemagert, sah angeschlagen aus. ,Einen halben Strich Steuerbord, schön langsam.‘ ,Liegt an‘, sagte Diamandis. ,Noch einen halben, geh auf Nord-Nordost.‘ ,Nord-Nordost liegt an‘, sagte der Rudergänger. ,Recht so.‘ ,Recht so‘, wiederholte der Rudergänger.“

Nikos Kavvadias beschreibt die Szene in seinem Roman „Die Wache“: Ein Taifun zieht Richtung Philippinen, der griechische Frachter, der sich durch die stummen Wellen, hoch und hohl, kämpft, ist ein alter Kasten, schrottreif, der reinste Seelenverkäufer, kaum etwas funktioniert, nicht einmal der Käpten, der selbst bei Sturm nicht aus seiner Koje kommt. Doch Verlass ist auf den Kompass; der hilft, dem Unwetter auszuweichen. Aber die Seefahrt ist ja viel älter als der magnetische Pfadfinder durch die Wasserwüsten. Erstaunlich, wie die Kapitäne es früher schafften, über die Weltmeere zu navigieren, ohne diesen Stifter von Kurs und Zuversicht.

Wir probieren es aus. Im folgenden Jahr, als die „Tryggvason“ aus dem Winterlager zurückgekehrt ist und die Tage wieder lang und heiter sind, peilen wir einen vollen Tag lang zu jeder vollen Stunde die Himmelsrichtung, in der die Sonne steht. Dann basteln wir uns eine Holzscheibe, in deren Mitte ein kurzer Stab steckt – eine Art Sonnenuhr. Die Peilungen werden auf der Holzscheibe abgetragen und die Scheibe dann jeweils so gedreht, dass der Schatten des Stabes auf die zur Tageszeit gehörende Markierung fällt. Jetzt zeigt unsere Sonnenuhr wie eine Kompassrose die Himmelsrichtung an. Der eigentliche Schiffskompass wird verhüllt und verschnürt, und wir legen mithilfe unserer Holzscheibe Südwest zu Süd an, ungefähr 210 Grad, wahrscheinlich das erste Schiff seit den Zeiten der frühen Hansekoggen, das ohne Kompass über die Ostsee fährt.


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mare No. 70

No. 70Oktober / November 2008

Von Peter Sandmeyer

Wenn Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Stern-Autor, nicht gerade mit der schnellsten deutschen Yacht von Newport an Amerikas Ostküste nach Hamburg segelt, sticht er gerne mit seinem Boot in die Nordsee. Für mare No. 35 schrieb er Im Salzland, ein Beitrag über die Welt der Halligen.

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Vita Wenn Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Stern-Autor, nicht gerade mit der schnellsten deutschen Yacht von Newport an Amerikas Ostküste nach Hamburg segelt, sticht er gerne mit seinem Boot in die Nordsee. Für mare No. 35 schrieb er Im Salzland, ein Beitrag über die Welt der Halligen.
Person Von Peter Sandmeyer
Vita Wenn Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Stern-Autor, nicht gerade mit der schnellsten deutschen Yacht von Newport an Amerikas Ostküste nach Hamburg segelt, sticht er gerne mit seinem Boot in die Nordsee. Für mare No. 35 schrieb er Im Salzland, ein Beitrag über die Welt der Halligen.
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