Eine Nacht mit Moby Dick

Ein bizarres Lesemarathon von Herman Melvilles berühmtem Werk an historischer Stätte – mit prominenter Besetzung

Seinen großen Auftritt hat Mark kurz nach sechs. Einer der Vorleser ist nicht erschienen, und so hat ein „Watch Officer“ ihn gebeten einzuspringen.

Mark ist sichtlich aufgeregt. Mit der Hand nestelt er an seiner Brille, verschiebt das Mikrofon und macht, was noch keiner der 110 Leser vor ihm gemacht hat: Mit einem Stift fährt er die Zeilen nach, die sein Nachbar liest. Dann das Zeichen für seinen Einsatz: „I look, you look“, hebt Mark an und schaut ins Publikum. Der Stift fährt weiter. „Ship ahoi“, schreit er die ersten Zeilen von Kapitel 100, so dass seine Stimme die Halle erfüllt, „Habt ihr den Weißen Wal gesehen?“ Ahabs Besessenheit, findet Mark, kann man gar nicht dramatisch genug vortragen.

Es ist Montag morgen, die Sonne ist noch nicht aufgegangen, und Mark Wojnar liest „Moby Dick“. Er steht an einem von zwei Pulten am Heck des im Maßstab von 1:2 nachgebauten Walfängers „Lagoda“ in der Eingangshalle des Walfang-Museums in New Bedford. Vor ihm sind einige Deck Chairs, Liegestühle, für die Zuhörer aufgestellt. Doch um diese Tageszeit sind sie nur noch spärlich gefüllt. Ein dadaistisches Theater? Nein, Mark und die Gäste sind Marathon-Leser zu Ehren von Herman Melville.

Gestern vor 158 Jahren, am 3. Januar 1841, schiffte der Schöpfer des Epos auf der „Acushnet“ ein und verließ den Hafen von New Bedford in Richtung Südsee. Dieses Ereignis brachte Irwin Marks, Rentner und Mitarbeiter des Walfang-Museums, auf eine Idee. Wäre es nicht eine gute Sache, dachte sich Irwin, den Jahrestag von Mevilles Ausfahrt mit einer Lesung von „Moby Dick“ zu feiern? Weltliteratur, viele Szenen in New Beford rund um das Walfang-Museum spielend, der titanische Kampf von Ahab und dem Weißen Wal – da würde es nur eine olympische Veranstaltung tun. Also begannen Irwin (man ruft sich hier beim Vornamen) und seine Helfer vor drei Jahren mit dem „Moby Dick Reading Marathon“: einer Lesung des fast 600 kleinbedruckte Seiten dicken Schinkens, öffentlich und pausenlos.

Irwin gibt das Startsignal. Er hebt die Hand, blickt auf die abgelegte Armbanduhr und macht ein Häckchen auf die Blätter vor ihm. „Call me Ishmael“, hallt der berühmte Satz durch die Halle. Der erste Leser trägt schwarzen Vollbart, schwarze Wollmütze, blaue Jacke und einen roten Schal. Wie überhaupt das Ambiente stimmt: In Schaukästen hängen Harpunen und all die anderen Erfindungen und Patente, welche die Walwirtschaft hervorgebracht hat, und der drei Meter hohe Unterkiefer eines Pottwals mit Stiftzähnen überragt die Deck Chairs. Es ist wenige Sekunden nach zwölf Uhr mittags, 52 Zuhörer sind da. Draußen drückt ein scharfer Wind die amerikanische Flagge waagrecht in die Luft und die kahlen Äste der Bäume schlagen gegeneinander wie Takelagen.

In New Bedford ist die öffentliche Lesung von „Moby Dick“ keine Angelegenheit von Bücherwürmern und Seebären. Der Termin lockt das kleine „Who is Who“ der Ostküste: Senator Robert Kennedy und andere Politiker haben sich angemeldet, Vertreter des Fernsehens, Historiker und sogar die Melvilles wollen kommen. Insgesamt 149 Leser stehen in Irwins Liste. Zehn Minuten wird jeder Auftritt dauern, die volle Marathon-Strecke ist auf etwa 24 Stunden angesetzt – 135 Kapitel, verteilt auf 583 Seiten in der 1977 erschienenen Taschenbuchausgabe, die ich zum Mitlesen auf Deutsch mitgenommen habe. Dazu habe ich eine Decke aus dem Hotel dabei, eine Flasche Wasser und einen Schokoriegel.

„Thank you“, sagt Irwin freundlich, wenn die Lesezeit vorüber ist. Manchmal nickt er einfach nur und erteilt mit einem Wink dem Vorleser am anderen Pult das Wort. Mit der Redeliste auf dem Tisch vor sich, in die er eifrig protokolliert, und dem stehenden Spiralblock wirkt Irwin wie der Quizmaster Robert Lembke. Nur, dass er nicht die „Nein“ zählt, sondern die gelesenen Kapitel – damit sich niemand verirrt.

Die Prominenz tummelt sich unter den niedrigen Startnummern – das ist offenbar eine Frage des Status. Nummer drei ist Fred Kalisz, der Bürgermeister. „Nun hatte ich also in New Bedford eine Nacht, einen Tag und noch eine Nacht vor mir“, darf er voller Stolz sagen, wie Ishmael die Tage vor seiner Einschiffung verbringt.

Ishmael ist der Erzähler des Romans. Er machte zwar in New Bedford Station, doch das Deck der „Pequod“ betrat er in Nantucket. Die Insel wenige Meilen vor dem Festland war zu dieser Zeit das Zentrum des amerikanischen Walfangs. Indianer mit ihren Kanus hatten hier schon seit alters Wale harpuniert. Doch als die Häfen der Insel versandeten, verlagerte sich das Zentrum der neuen Industrie nach New Bedford. Nantucket blieb berühmt für seine kühnen und treffsicheren Harpuniere.

Das frühere Dorf am Acushnet-Fluss hingegen wurde zur Boomtown. Zum Höhepunkt Mitte des 19. Jahrhunderts befuhren etwa 800 Walfänger und auf ihnen 20000 Seeleute alle Fanggründe dieser Welt: die Küste von Sansibar, die Seychellen, Kamtschatka, den Pazifik. Sie jagten nicht nur den Pottwal, sondern alles, was ihnen unter den Ausguck kam. Sie kochten den Blubber der Wale, füllten ihn in Fässer und stapelten diese auf den Piers ihres Heimathafens, dass die Reeder nur so jauchzten. „Das Öl von New Bedford“, jubelten die Zeitungen, „erleuchtet die Welt.“ Heute erinnert ein „Whaling National Historical Park“ rund um das Walfang-Museum an diese Epoche. Und der Roman, um den sich hier vieles dreht – nicht nur heute.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 17. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 17

No. 17Dezember 1999 / Januar 2000

Von Werner Siefer, Anita Back und Nubar Alexanian

Werner Siefer, Jahrgang 1964, ist Biologe und lebt als Wissenschaftsredakteur des Magazins „Focus“ in München. Dies ist sein erster Beitrag in mare.

Anita Back, Jahrgang 1969, hat ihre Fotoausbildung am Lette-Verein in Berlin gemacht und lebt dort als freie Fotografin. Für mare fotografierte sie das Pablo-Neruda-Museum in Chile (in Heft 12)

Nubar Alexarian, Jahrgang 1950, ist Dokumentarfotograf und lebt in Boston, USA

Mehr Informationen
Vita Werner Siefer, Jahrgang 1964, ist Biologe und lebt als Wissenschaftsredakteur des Magazins „Focus“ in München. Dies ist sein erster Beitrag in mare.

Anita Back, Jahrgang 1969, hat ihre Fotoausbildung am Lette-Verein in Berlin gemacht und lebt dort als freie Fotografin. Für mare fotografierte sie das Pablo-Neruda-Museum in Chile (in Heft 12)

Nubar Alexarian, Jahrgang 1950, ist Dokumentarfotograf und lebt in Boston, USA
Person Von Werner Siefer, Anita Back und Nubar Alexanian
Vita Werner Siefer, Jahrgang 1964, ist Biologe und lebt als Wissenschaftsredakteur des Magazins „Focus“ in München. Dies ist sein erster Beitrag in mare.

Anita Back, Jahrgang 1969, hat ihre Fotoausbildung am Lette-Verein in Berlin gemacht und lebt dort als freie Fotografin. Für mare fotografierte sie das Pablo-Neruda-Museum in Chile (in Heft 12)

Nubar Alexarian, Jahrgang 1950, ist Dokumentarfotograf und lebt in Boston, USA
Person Von Werner Siefer, Anita Back und Nubar Alexanian