Eine Kugel Erdbeer, eine Kugel Qualle

In Japan gilt Fischeis als Delikatesse, bei uns ist es ein Spiel mit den Wahrnehmungen. Nur wer erlernte Vorstellungen über Bord wirft, kann die salzige Creme genießen

Als sich unter amerikanischen Gourmet-Bloggern vor nicht allzu langer Zeit die Kunde verbreitete, die neueste Dessertmode in Japan sei Designereiscreme aus Fischen, Krabben, Seetang und Quallen, gestanden viele spontane Übelkeit. Eis sei mit gutem Grund weder Fisch noch Fleisch, hier werde die japanische Meerestierliebe überzogen. Einige trieben es so toll mit rassistischen Dummheiten über Kamikazemenüs und Harakiridesserts, dass Japaner Beschwerde führten: Aaleis sei im Archipel weniger verbreitet als stinkende Schimmelkäse in Amerika oder potenzsteigernde Schnäpse mit eingelegten Schlangen in China. Sie waren beleidigt. Als sei es wirklich zum Würgen, sich gelato di mare alla giapponese auch nur vorzustellen.

Damit taten sie Yoshiaki Sato Unrecht, einem Konfektbäcker in der nordjapanischen Hafenstadt Ishinomaki, der mit seinen 80 Fischeissorten der Held der kalten Kontroverse ist. Aber auch Heston Blumenthal hätte Grund gehabt, sich von der Ignoranz der Kostverächter getroffen zu fühlen. Der Chef des „Fat Duck“ im englischen Bray-on-Thamse hat sich vor Jahren seinen ersten Michelin-Stern und diverse andere Preise eingehandelt mit Ei-und-Schinken-Eis, Krabben- und Senfeis. Blumenthal serviert heute ein köstlichstes Schneckenrisotto für 100 Pfund die Portion. Ein Restaurantkritiker, der damals seine Eisvariationen testete, befand sie für „superb“ und brachte das Dilemma auf den Begriff: „Nur weil es Eiscreme ist, erwartet man, dass es süß sein muss, und findet es sogar süß, obwohl es das nicht ist. Man spielt mit seinen Wahrnehmungen.“

Über Geschmack und Geruch ist zu streiten. Erst recht unter Japanern, die fast sämtlich keinen wahrnehmbaren Körpergeruch haben und fettige Fleischausdünstungen schnell widerwärtig finden. Auch ihre Fischgerichte, all die gekochten, rohen, zu Gebäck oder Eiscreme erstarrten Meerestiere und Fische, dürfen weder vom Kopf noch vom Schwanz stinken. Auch „Unagi Pie“ nicht, Aalkuchen aus feinstem Teig. Ob er wirklich zum Aphrodisiakum („Süßigkeiten für die Nacht“) taugt, ist aus guten Gründen bisher weder bestätigt noch bestritten worden. Wahr ist, dass in Japan Süßigkeiten oft salzig schmecken, meerig, reisig. Sojasauce und Zucker passen gut zueinander.

Wir finden appetitlich, was uns einleuchtet; was uns einleuchtet, ist Erziehung. Hundesteaks, Frankfurter Handkäs, Shrimp-Sashimi, Oktopuseiscreme: Was der Bauer nicht kennt, hält er für nicht essbar. Auch Yoshiaki Sato hatte mit Bauern und ihrer Ablehnung zu kämpfen. Seine Angestellten hassten den Fischgestank während seiner ersten Eisexperimente. Bis er mit Wal, Seeschnecken und Schildkröten lokale Gourmethits schuf, musste er übel riechende Täler durchmessen. Er fand heraus, dass das Einlegen der Fischfilets in Alkohol das Eis cremig und geschmeidig machte. Oktopus verlor seine Penetranz durch ein Acht-Stunden-Bad in braunem Tee, Haiflossen wurden für das Eis verwendbar nach einer Behandlung mit grünen Zwiebeln und Misokraut.

Eiscreme als Geruch und Vorstellung: Der Schlüssel zu Satos Erfolg waren die Alkoholbäder. Im hartnäckigsten Fall in sieben Stufen, mit Whisky, Brandy und fünf anderen Spirituosen plus drei Arten von Nüssen und Schokolade, um den Geschmack zu „verwestlichen“.

Nicht jeder genießt die Fischstückchen, die wie Kokosflocken das Eis aufrauen, wie Yoshiaki Sato es sich wünscht. Noch begrenzter ist der Erfolg von Chicken Wing Ice Cream, Fleischeis, Leberwursteis, Currywursteis, Pizzaeis. Dagegen leuchtet Shrimpeis selbst ungetestet als Delikatesse ein – Wasser zu Wasser. Japaner haben noch nie verstanden, warum Getier, das im Salzwasser lebt, weniger appetitlich sein soll als Kreaturen, die in ihren Exkrementen liegen.

Pardon. Aber es lässt sich in Fairness sagen, dass kaum eine Landesküche so innig um die Ästhetik des Appetitanregens bemüht ist wie die japanische. Kaum ein anderes Volk zelebriert die Kochkunst mit größerem Ernst. Yoshiaki Sato und seine Brüder im freien japanischen Geist, der stets das Unvereinbare zu verbinden schafft, wissen, was sie tun. Sie wissen auch, dass sie nicht den Geschmack der Massen revolutionieren werden. Kanadische Kulturanthropologen haben in einer weltumspannenden Studie herausgefunden, dass bestimmte Eissorten in allen Ländern dominieren: Vanille, Schokolade, Erdbeere. Auch in Japan.


Krabbeneiscreme à la Heston Blumenthal

Zutaten (für vier Personen)

12 Eigelbe, 120 g Zucker, 300 g Krabben, 15 g Milchpulver, je ein Schuss Brandy, Wermut, Weißwein, eine Prise Karotten-, Zwiebel-, Knoblauch- und Tomatenpulver, Koriander, Nelke, Sternanis.

Zubereitung

Krabben samt Schale (!) fein hacken, in Öl scharf anbraten, mit den Alkoholika ablöschen. Gewürze hinzugeben, mit Wasser bedecken, zwei Stunden köcheln lassen. Durch ein Sieb passieren und den Sud auf 0,5 Liter reduzieren. Eigelb und Zucker steif schlagen. Den Fond aufkochen, von der Flamme nehmen, den Eigelbschaum einrühren, kurz zurück auf die Flamme. Dann in den Tiefkühlschrank stellen und alle 15 Minuten kurz umrühren. Nach drei Stunden ist die Eiscreme servierfertig.

mare No. 62

No. 62Juni / Juli 2007

Von Uwe Schmitt und James Whitlow Delano

Uwe Schmitt, Jahrgang 1955, war ab 1990 sieben Jahre lang Ostasienkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Sitz in Tokio. Danach arbeitete für Die Welt in Washington. Und er ist jetzt wieder in Berlin als Reporter der Welt-Gruppe im Einsatz.

James Whitlow Delano zog es immer wieder nach Asien, heute lebt er in Tokio. Seine Fotos wurden mit dem Alfred Eisenstadt Award, dem Leica Oskar Barnack, Picture of the Year International Award sowie von Photo District News und anderen ausgezeichnet. Seine Arbeiten erschienen unter anderen in mare, New York Times Magazine, National Geographic Books, GEO, Newsweek, Mother Jones, Time Asia, Internazionale, Le Monde 2, Vanity Fair Italia. 2015 startete er den Instagram Feed EverydayClimateChange (ECC), auf dem Fotografen den Klimawandel weltweit dokumentieren.

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Vita Uwe Schmitt, Jahrgang 1955, war ab 1990 sieben Jahre lang Ostasienkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Sitz in Tokio. Danach arbeitete für Die Welt in Washington. Und er ist jetzt wieder in Berlin als Reporter der Welt-Gruppe im Einsatz.

James Whitlow Delano zog es immer wieder nach Asien, heute lebt er in Tokio. Seine Fotos wurden mit dem Alfred Eisenstadt Award, dem Leica Oskar Barnack, Picture of the Year International Award sowie von Photo District News und anderen ausgezeichnet. Seine Arbeiten erschienen unter anderen in mare, New York Times Magazine, National Geographic Books, GEO, Newsweek, Mother Jones, Time Asia, Internazionale, Le Monde 2, Vanity Fair Italia. 2015 startete er den Instagram Feed EverydayClimateChange (ECC), auf dem Fotografen den Klimawandel weltweit dokumentieren.
Person Von Uwe Schmitt und James Whitlow Delano
Vita Uwe Schmitt, Jahrgang 1955, war ab 1990 sieben Jahre lang Ostasienkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Sitz in Tokio. Danach arbeitete für Die Welt in Washington. Und er ist jetzt wieder in Berlin als Reporter der Welt-Gruppe im Einsatz.

James Whitlow Delano zog es immer wieder nach Asien, heute lebt er in Tokio. Seine Fotos wurden mit dem Alfred Eisenstadt Award, dem Leica Oskar Barnack, Picture of the Year International Award sowie von Photo District News und anderen ausgezeichnet. Seine Arbeiten erschienen unter anderen in mare, New York Times Magazine, National Geographic Books, GEO, Newsweek, Mother Jones, Time Asia, Internazionale, Le Monde 2, Vanity Fair Italia. 2015 startete er den Instagram Feed EverydayClimateChange (ECC), auf dem Fotografen den Klimawandel weltweit dokumentieren.
Person Von Uwe Schmitt und James Whitlow Delano