Eine Klasse Paste

Der Brotaufstrich The Gentleman’s Relish ist seit Queen Victorias Zeiten ein Symbol der britischen Elite. Wie ist das möglich?

Sir William Sidney Smith war ein hochdekorierter britischer Kriegsheld. Als Befehlshaber der Royal Navy leistete er 1799 seinen Beitrag, dass Akkon der Belagerung durch Napoleon drei Monate standhielt. 1835 aber wurde der hart gesottene Admiral a. D. schwach, als ihm eine Paste namens Patum Peperium vorgesetzt wurde. Herb schmeckte sie, fischig und äußerst salzig. Als er die Portion vertilgt hatte, bestellte er umgehend drei neue und notierte: „Ohne Zögern erkläre ich, dass dies die köstlichste Frühstückstischbegleitung ist, die ich je probiert habe.“

Damit zählte Sir Sidney zur ersten Generation von Liebhabern des Anchovisaufstrichs, der vorzugsweise auf getoastetem, mit salzloser Butter bestrichenem Brot genossen wird. Im viktorianischen England wurde er zu einem wahren Renner. 1828 hatte ein in Paris ansässiger Brite namens John Osborn ihn kreiert, aus eingelegten Anchovis (60 Prozent), Butter, Kräutern und Gewürzen. Das Verhältnis und die Reihenfolge aber, worin sie zueinanderfinden müssen, sind seither ein gut gehütetes Geheimnis, über das selbst zeitgenössische foodies noch rätseln.

Der gute Mr. Osborn jedenfalls wurde von der Nachfrage so überrannt, dass er seine Tätigkeit als Lebensmittelhändler aufgab, um sich ganz dem neuen Produkt widmen zu können. Dessen lateinischer Name fand schon bald eine umgangssprachliche Ergänzung: Weil die „Pfefferpaste“ besonders auf Dinnerempfängen der Oberschicht beliebt war, fragten Kunden ihre Händler immer häufiger nach „The Gentleman’s Relish“. Längst zieren beide Begriffe als eingetragene Markenzeichen die charakteristische weiße Dose.

Vier Generationen lang blieb Patum Peperium im Familienbesitz. Beliebt war sie nicht nur auf der Insel, sondern auch bei britischen Expats in sämtlichen Winkeln der Welt. Der unverwechselbare Geschmack bot eine kulinarische Verbindung zur Heimat, deren Küche seit je für Saucen und Aufstriche bekannt ist – ein wenig wie die pflanzliche Paste Marmite, nur exklusiver. In Gentleman’s Relish stecken Distinktion und Klassenbewusstsein.

In einer süffisanten Ode schrieb der „Telegraph“-Journalist Adam Edwards, der Aufstrich verkörpere Erinnerungen an „High Tea vor dem offenen Kamin“ und gehöre zum düsteren Dezember wie ein Gurkensandwich zum Picknick. Adams folgert: „Er ist so politisch inkorrekt, wie Essen nur sein kann – nicht weil es grausam ist, Anchovis zu töten, sondern weil es eine potente Erinnerung an die Elite von gestern ist.“

Insofern ist Gentleman’s Relish Fisch gewordene Melancholie, denn nicht nur das Britische Empire ging verloren. 1971 sahen sich die letzten Nachkommen John Osborns, die Brüder Harold und Newton, aus Mangel an Erben zum Verkauf des

Familienbetriebs gezwungen. Neuer Eigentümer wurde die Feinkostfirma Elsenham Quality Foods. Wie sich David Fright, der damalige Designdirektor, erinnert, bewahrte man den besonderen Charakter des Produkts. So hielt man etwa das Rezept geheim. „Nur ein oder zwei Leute hatten Zugang dazu“, sagt Fright. Kurz vor dem Verkauf nahm er an einer exklusiven Vorführung der Osborn-Brüder teil, bei der sie ihr Wissen an die neuen Eigentümer weitergaben. Fright sieht den riesigen Topf noch vor sich, in dem allerlei Kräuter und Gewürze gekocht wurden.

Im neuen Jahrtausend schließlich wurde Patum Peperium ins Segment „World Foods“ des multinationalen Konzerns Associated British Foods eingegliedert. Dieser verlagerte die Produktion 2008 in seine neue Fabrik im polnischen Nowa Sól. Wieder kamen Geheimnisträger vom früheren Standort, um ihr Wissen weiterzugeben.

Geschmacklich ist The Gentleman’s Relish also unverändert. Gleiches gilt für die charakteristische braune Farbe mit leichtem Olivstich. Selbst die flache, 42,5 Gramm fassende Dose sieht fast aus wie immer. Nur dass statt „delicious on hot toast“ dort nun vermerkt ist, dass ihr Inhalt der perfekte Aufstrich für „Toast, Crackers oder Blinis“ sei. Und auf dem seitlichen Klebestreifen steht „Made in the EU“. Fast ironisch klingt das in diesen Zeiten, in denen die Sehnsucht nach dem alten England solch eine Konjunktur hat.

The Gentleman’s Relish
Das Originalrezept ist bis heute ein streng gehütetes Geheimnis. Liebhaber versuchen sich daher seit je an äquivalenten Rezepturen wie der folgenden. Quelle hierfür ist der 
sachkundige Blog www.britishfood history.com.
Zutaten
1 TL Cayennepfeffer, je ¼ TL gemahlener Zimt, Muskatnuss, Muskatblüte, Ingwer und schwarzer Pfeffer, 50 g eingelegte Anchovis, 113 g weiche Butter.

Zubereitung
Ein Drittel der Butter in einer Pfanne erhitzen. Wenn sie Blasen bildet, Gewürze 30 Sekunden darin anbraten, dann mit Anchovis und der restlichen Butter vermengen. In ein Gefäß füllen, abkühlen lassen. Im Kühlschrank aufbewahren. Wem die eigenen Kochkünste nicht genügen, kann das Original natürlich in der Dose über den einschlägigen Internetfachhandel beziehen.

 

mare No. 129

August / September 2018

Von Tobias Müller und Hans Hansen

Tobias Müller, Jahrgang 1975, studierte Politik, Soziologie und Ethnologie in Freiburg. Dort bis 2005 freier Journalist, seit 2006 als Korrespondent in Amsterdam für Belgien, die Niederlande und Luxemburg.

Hans Hansen lebt als freier Fotograf in Hamburg.

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Vita Tobias Müller, Jahrgang 1975, studierte Politik, Soziologie und Ethnologie in Freiburg. Dort bis 2005 freier Journalist, seit 2006 als Korrespondent in Amsterdam für Belgien, die Niederlande und Luxemburg.

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Vita Tobias Müller, Jahrgang 1975, studierte Politik, Soziologie und Ethnologie in Freiburg. Dort bis 2005 freier Journalist, seit 2006 als Korrespondent in Amsterdam für Belgien, die Niederlande und Luxemburg.

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