Eine Idee der Wahrheit

Der Streit um den von Menschen gemachten Einfluss auf das Klima und die Folgen für die Ozeane wirft die Frage auf: Wie geht die Wissenschaft mit der Last der Beweislast um? Fragen an zwei führende Klimaforscher, Professor Stefan­ Rahmstorf und Profes­sor

Es war ein Streit, der mich bis heute beschäftigt. Mein Professor bestand auf der Beweisbarkeit der Wahrheit, ich darauf, dass die Wahrheit doch offensichtlich sei. Was sei da noch zu beweisen? Und wenn er diese Offensichtlichkeit nicht anerkenne, dann wäre stattdessen eine von Wissenschaftlern formulierte „Halbwahrheit“ vonnöten. Das wäre unsere Verantwortung.

Worum ging es in diesem Disput?

Der Tanker „Kronos“ verklappte vor über 30 Jahren im Auftrag der Firma Kronos Titan in der Nordsee Dünnsäure, verdünnte Schwefelsäure mit giftigen Schwermetallanteilen. Eine Häufung tumorartiger Wucherungen vor allem bei Plattfischen war die von Umweltschützern, auch von mir, vermutete Folge. Mein Meereskundeprofessor wetterte in der Vorlesung gegen die Umweltschützer, die, in seinen Augen wissenschaftlich unfundiert, gegen die Dünnsäureverklappung protestierten. Es gebe für unsere Behauptungen keinerlei Beweise, und Wissenschaftler seien schließlich der Wahrheit verpflichtet. Ich hielt empört dagegen und bezichtigte ihn, einer rückständigen Wahrheitsideologie anzuhängen.

Mein Vorwurf bezog sich darauf, dass sich die meisten Wissenschaftler noch immer auf das Wahrheitsbild der Aufklärung beziehen, insbesondere die Grundsätze René Descartes’. Dieser postulierte, dass etwas nur richtig oder wahr sei, was aufgrund einer profunden Analyse verifizierbar sei. Diesem Gedanken ist sicherlich kaum zu widersprechen. Vor allem im 17. Jahrhundert waren Descartes’ Theorien von enormer Wichtigkeit, sie veränderten das westliche Weltbild und schufen die Grundlagen für die modernen Wissenschaften. Doch Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgten fundamentale Neuerkenntnisse. Physiker wie Albert Einstein, Werner Heisenberg oder Erwin Schrödinger revolutionierten unsere Sichtweise. Wenn danach unter anderem das Ursache-Wirkung-Prinzip nicht mehr gilt wie zuvor, wenn selbst der Zeitbegriff und die Definition eines Ortes relativiert werden, dann sind die Grundfesten der Aufklärung, wie die von Galilei oder Descartes, erschüttert und müssen überdacht werden.

Bedeutet das nicht auch automatisch, dass wir nicht mehr auf einer letztendlichen Beweisführung beharren können, wenn wir von einer wissenschaftlichen Wahrheit sprechen? Müssen wir nicht die Erkenntnisse Heisenbergs und Einsteins in unser modernes wissenschaftspolitisches Weltbild übernehmen? Sind wir somit nicht verpflichtet, etwa im umweltpolitischen Diskurs die herkömmliche Beweiserbringungspflicht zu überdenken, sie eventuell sogar der Seite der Verursacher, der Industrie, zuzuschreiben und uns über eine neu definierte Verantwortung Gedanken zu machen? Denn wenn wir im Sinn der Aufklärung weiterforschen und weiterbeweisen müssen, führt nach den Erkenntnissen der modernen Physik alle Arbeit ins Ewige, ins nie abschließend Beweisbare. Und diese Zeit haben wir nicht mehr.

Zur Verdeutlichung dieser Problematik sei hier nochmals der Fall der „Kronos“ bemüht:

Hätte Greenpeace vor 30 Jahren nicht die Öffentlichkeit für die Dünnsäureverklappung sensibilisiert, dann hätte Kronos Titan selbstverständlich so lange diese günstige Entsorgungsvariante weitergeführt, bis wissenschaftlich eindeutig erwiesen gewesen wäre, dass Fische und andere Lebewesen durch die Dünnsäure geschädigt würden. Doch dieser Beweis, diese Wahrheit, wäre, wenn überhaupt, erst nach Jahrzehnten intensiver Forschung möglich gewesen. Aber wahrscheinlich sogar nie. Denn Ursache und Wirkung in eindeutiger Kausalität darzustellen ist in der ökologischen Forschung kaum möglich. Und da beginnt das Dilemma. Denn die Politik, stets durch Lobbyismus auch unter dem ökonomischen Erfolgsdruck der Industrie stehend, scheut den Konflikt mit der Industrie, wenn diese auf klaren Umweltbeweisen besteht und die Wissenschaftler sich nicht hundertprozentig festlegen wollen oder können. Denn diese folgen größtenteils noch der Theorie Descartes’ und Newtons, dass jede Wirkung immer eine eindeutig zuzuordnende Ursache haben muss. (Selbst Einstein war dieser Auffassung und formulierte daraus den berühmten Satz „Gott würfelt nicht“.)

Erst die moderne Quantenmechanik, die mit ihren physikalischen Theorien zur Beschreibung und Berechnung bis hin zum subatomaren Größenbereich die Grundlage der Atom- und Kernphysik bildet und damit fundamentalen Erkenntnissen und Prinzipien der klassischen Physik widerspricht, kann aus dem Dilemma helfen. Denn diese anerkannte Lehre verlässt den Grundsatz des Kausalitätsprinzips und spricht nur noch von einer Wahrscheinlichkeit der Kausalität. Insofern hätten wir doch auch im Fall „Kronos“ diese Erkenntnis anwenden können – denn sehr wahrscheinlich leiden die Organismen unter der Dünnsäure.

Würden die Wissenschaftler dieser Prämisse entsprechend handeln, dann gäbe es die Beweislast der Wissenschaft wie bisher in der Umweltpolitik nicht mehr. Und der Druck auf die Politiker wäre durch die Forschung um ein Vielfaches größer. Insofern auch auf die Industrie.

Und das ist dringend notwendig. Betrachten wir nämlich die ungeheuer wichtige Aussage des Weltklimarats (IPCC), dass wir zum Beispiel mit einem Anstieg der globalen Temperatur und somit auch des Meeresspiegels rechnen müssen, und verfolgen wir die dementsprechenden Diskussionen, dann stellen wir fest, dass selbst der IPCC und seine Veröffentlichungen unter den althergebrachten Sichtweisen insofern leiden, als dass dieser diffamiert und sogar angezweifelt wird. Und das ist in Anbetracht der dringenden Handlungsnotwendigkeit für die Meere und das Weltklima eine Katastrophe.

Wir müssen lernen, dass es eine Wahrheit über Umweltentwicklung nach der Vernunft und aufgrund von Erfahrung gibt, eine, die nicht im Sinne Descartes’ und Newtons beweisbar ist, eine Wahrheit, die uns retten kann. Aber sie braucht Mut, Erkenntnis, und es muss darüber Einigkeit bei der Wissenschaft herrschen.

Allein, dies benötigt Zeit. Fragt man Forscher, wo sie ihre Verantwortung sehen, wie sie mit dem Begriff der Wahrheit in der Wissenschaft umgehen und welches Handeln sie daraus ableiten, erkennt man schnell, wie viel Zeit noch benötigt wird. Selbst wenn man, wie auf den folgenden Seiten, zwei Wissenschaftler befragt, die nicht nur in der Klimaforschung in ihren Gebieten jeweils die Nummer eins in der Welt sind, sondern sich auch weit mehr als ihre Kollegen, etwa mein Professor vor 30 Jahren, sich vom strengen Wissenschaftsbild Descartes’ befreit haben.

Aber wir brauchen dringend ein Nachdenken über Begriffe wie Wahrscheinlichkeit und Wahrheit im Zusammenhang mit Verantwortung. Dann können wir schneller handeln, und kostspielige und ewige Debatten wie die seit Rio 1992 blieben uns und vor allem den Meeren erspart.

Professor Stefan Rahmstorf, Ozeanograf, Universität Potsdam

Wie finden Sie Gewissheit für Ihre wissenschaftlichen Aussagen?

Eine letzte Gewissheit findet die Wissenschaft nie. Sie gewinnt ihre Stärke gerade daraus, alles immer wieder zu hinterfragen. Naturwissenschaftliche Thesen zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie zwar prinzipiell widerlegbar sind, nicht aber endgültig beweisbar wie Aussagen der Mathematik. Es geht also nicht um Gewissheit, sondern um Fragen wie: Wie nah kommt eine Modellvorstellung oder Theorie der Realität? Wie gut ist sie durch Beobachtungsdaten gestützt? Wie wahrscheinlich ist eine darauf basierende Zukunftserwartung?


Erhalten wissenschaftliche Arbeiten durch Veröffentlichungen in Zeitschriften wie „Science“ oder „Nature“ einen Anspruch auf Wahrheit?

Nein. Gerade die Spitzenjournale wie „Nature“ und „Science“ publizieren ja Wissenschaft an der vordersten Front der Forschung, also die wirklich neuen Dinge, und die sind natürlich oft gerade die noch am wenigsten abgesicherten. Neue Ideen müssen sich in der Wissenschaft immer erst bewähren und vielen kritischen Prüfungen standhalten, bevor sie breite Akzeptanz unter Forschern finden. Das kann viele Jahre oder Jahrzehnte dauern. Die unabhängige Begutachtung jeder Studie durch andere Forscher vor der Publikation durch eine Fachzeitschrift ist dazu der erste, notwendige Schritt. Er sichert die grundlegende Qualität der Arbeit. Aber nach der Veröffentlichung stürzen sich Fachkollegen auf die Ergebnisse und suchen Schwächen und Gegenargumente, um diese selbst wiederum zu veröffentlichen. Dieser Wettbewerb im Wissenschaftsbetrieb hat eine Wächterfunktion. Wissenschaft ist eine Suche nach Erkenntnis. Im Laufe dieser Suche werden viele Ideen vorgeschlagen und dann auf den Prüfstand gestellt, nur ein Teil davon hat Bestand. Allmählich werden dabei die gut gesicherten Erkenntnisse herausdestilliert.

Stellt dies eine so zu nennende „Konsenswahrheit“ dar?

Ein Konsens stellt sich immer erst nach langer und kontroverser Diskussion ein. Das muss auch so sein, weil ja gerade die kritische Diskussion und Prüfung die Robustheit der wissenschaftlichen Erkenntnisse erweist. Daher gibt es ja zum Beispiel beim Thema Klimawandel den IPCC, manchmal Weltklimarat genannt. Das ist kein kleines Beratergrüppchen, sondern ein enorm breiter Diskussionsprozess, an dem Tausende Wissenschaftler weltweit beteiligt sind, um darzustellen: Welche Erkenntnisse sind weitgehend Konsens, was ist noch umstritten, wo liegen die Unsicherheiten? Eine solide Grundlage für Umweltpolitik ist der derart breit in der Expertengemeinde abgestützte Sachstand, nicht das neueste „Nature“-Paper von einer Handvoll Autoren. Das kann vielleicht in einigen Jahren dann Teil eines Konsenses werden, wenn es durch weitere Forschung bestätigt und erhärtet wurde – oder eben nicht.

Wie lange oder wie genau muss ein Wissenschaftler forschen, bis er sicher ist, dass die Ergebnisse der Wahrheit entsprechen? Oder gibt es diese im engen Sinne von René Descartes gar nicht?

Aus meiner Sicht gibt es in der Naturwissenschaft „die Wahrheit“ nicht, es gibt nur mehr oder weniger gut abgesicherte und mehr oder weniger präzise Erkenntnisse. Nehmen wir das Weltmodell von Kopernikus, wonach die Erde mit den anderen Planeten um die Sonne kreist. Ist das die Wahrheit? Es ist eine Modellvorstellung, deren Grundidee sich als entscheidender Erkenntnisfortschritt erwiesen und bestens bewährt hat. Das Modell erwies sich aber dann doch insofern als falsch, als es von kreisförmigen Planetenbahnen ausging, und Kepler konnte später zeigen, dass es sich eher um Ellipsen handelt. Die Modellvorstellung von Ellipsen passt wesentlich besser zu den Beobachtungsdaten, ist aber auch nicht die endgültige „Wahrheit“. Derart gut empirisch abgesicherte Erkenntnisse werden durch den weiteren Fortschritt allerdings nicht mehr völlig über den Haufen geworfen, sondern verfeinert.

Wenn Wissenschaftler nie die Wahrheit im Sinne von Descartes finden, dürfen sie dann überhaupt Aussagen treffen, die einen gewissen Anspruch auf Wahrheit erheben? Oder werden sie dadurch angreifbar?

Wissenschaftler sollten angreifbar sein! Wir sind ja gerade nicht der Papst, der unfehlbare Wahrheiten verkündet. Wir stellen unsere wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisse immer einer kritischen Öffentlichkeit zur Diskussion, zuallererst der äußerst kritischen Fachöffentlichkeit. Diese Diskussion brauchen wir auch nicht zu scheuen. Ich schreibe deshalb für die Blogs „Realclimate“ und „Klimalounge“, dort kann der interessierte Laie aus erster Hand erfahren, was uns Klimaforscher beschäftigt und wie wir denken.

Sollte sich die Wissenschaft heute gerade hinsichtlich der Umweltpolitik in ihrer Verantwortung Physiker des 20. Jahrhunderts wie Heisenberg oder Einstein zum Vorbild nehmen und sich auf einen neuen, „unschärferen“ Wahrheitsbegriff festlegen?

Ich habe selbst ja meine Wissenschaftslaufbahn mit allgemeiner Relativitätstheorie begonnen und dazu auch publiziert. Ich denke nicht, dass Relativität oder Heisenbergs Unschärfe etwas mit den noch vorhandenen Unsicherheiten im Verständnis des Erdsystems zu tun hat oder mit der Notwendigkeit, trotz Unsicherheiten verantwortungsvolle politische Entscheidungen zu treffen. Entscheidend ist, dass auch das Ausmaß der Unsicherheit ein wesentlicher Teil der wissenschaftlichen Erkenntnis ist und vermittelt werden muss, wie es etwa der IPCC in vorbildlicher Weise tut. Dort sind alle Aussagen mit ausführlicher Diskussion der Unsicherheiten versehen, die ja in unterschiedlichen Bereichen sehr unterschiedlich sind. So ist die Entwicklung der globalen Temperatur physikalisch sehr gut verstanden, sie folgt im Wesentlichen einer einfachen Strahlungsbilanz. Die Reaktion der Kontinentaleismassen auf die Erwärmung ist dagegen viel komplexer und nur ungenügend verstanden. Dennoch dürfen Wissenschaftler hier nicht warten, bis sie letzte Gewissheit haben – denn dann wäre es für ein Gegensteuern im Klimasystem zu spät.

Führt nicht folgerichtig aufgrund der Erfahrung eines Wissenschaftlers die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit automatisch zur verantwortungsvollen Notwendigkeit des Handelns?

Als Wissenschaftler haben wir die Pflicht, unsere Erkenntnisse möglichst klar und verständlich der Öffentlichkeit zu erläutern. Nicht nur, weil wir ja in der Regel vom Steuerzahler bezahlt werden für die Arbeit, die wir tun. Es gibt auch eine ethische Verantwortung in dem Sinne, dass jemand, der eine Gefahr erkennt, auch seine Mitmenschen warnen muss. Wenn ich ein brennendes Haus sehe, dann muss ich handeln, zum Beispiel die Feuerwehr rufen. Genau wie Lungenärzte aufgrund ihrer Erkenntnisse uns davor warnen müssen, dass Rauchen Krebs erzeugen kann, müssen wir Klimaforscher die Öffentlichkeit darauf hinweisen, dass unsere CO2-Emissionen das Klima aufheizen. Das gehört übrigens zu den bestens gesicherten Erkenntnissen der Wissenschaft: Die Bedeutung des Treibhauseffekts für die Temperatur von Planeten hat schon Anfang des 19. Jahrhunderts Joseph Fourier verstanden. John Tyndall hat 1859 in Laborexperimenten nachgewiesen, welche Gase den Treibhauseffekt verursachen, und der schwedische Nobelpreisträger Svante Arrhenius hat 1896 erstmals vorgerechnet, wie stark die globale Erwärmung aufgrund einer Verdoppelung der CO2-Konzentration ausfallen würde. Spätestens seit den 1950ern kann die Physik des Treibhauseffekts als gut verstanden gelten. Im Jahr 1965 warnte der erste Expertenbericht den damaligen US-Präsidenten vor einer globalen Erwärmung aufgrund der CO2-Emissionen. Seit Jahrzehnten entwickelt sich die globale Erwärmung wie vorhergesagt. Die Frage aber, was wir dagegen tun wollen, ist natürlich keine Frage, die allein die Klimaforscher beantworten sollten. Sondern eine Frage für eine breite gesellschaftliche Debatte, und die wird ja auch geführt. Die Rolle der Wissenschaftler ist es, dazu beizutragen, dass diese Debatte auf Grundlage der besten Erkenntnisse über das Klimasystem geführt wird.

Eine solche „neue“ Verantwortung wäre doch wünschenswert. Aber wie gelänge die Umsetzung? Denn es müssten ja „Wahrheitskriterien“ eingeführt werden.

Ich glaube nicht, dass wir „Wahrheitskriterien“ benötigen. Es ist doch nur selbstverständlich, dass politische Entscheidungen auf Basis der besten verfügbaren Informationen fallen sollten. Auch wenn diese nie einen absoluten Wahrheitsanspruch haben können – übrigens in keinem Feld der Politik. Die Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie sind wesentlich schlechter verstanden als die der Klimaphysik.

Es gibt ja die Fraktion derer, die Klimaforscher als Lügner bezeichnen und behaupten, die Klimaveränderungen seien nicht anthropogener Natur. Was entgegnen Sie denen?

Leider neigt der Mensch dazu, unbequeme Erkenntnisse zu verdrängen oder zu verleugnen. Das ist nichts Neues. Galilei, der sich aufgrund seiner eigenen Beobachtungen mit dem Teleskop für das kopernikanische Weltsystem engagierte, bekam deshalb massive Probleme mit weltanschaulich motivierten Gegnern und der römischen Inquisition – sein Buch „Dialog über die zwei Weltsysteme“ war zwei Jahrhunderte auf dem Index der verbotenen Bücher, und Galilei stand bis an sein Lebensende unter Hausarrest. Im Vergleich dazu gehen wir heutigen Wissenschaftler wirklich kein Risiko ein, wenn wir uns für die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch öffentlich engagieren, selbst wenn sie in manchen Kreisen auf Ablehnung stoßen. Die Wissenschaft sitzt längst nicht mehr im Elfenbeinturm, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Und da gehört sie auch hin.

Professor Mojib Latif, Meteorologe, Universität Kiel

Erhalten wissenschaftliche Arbeiten durch Veröffentlichungen in Zeitschriften wie „Science“ oder „Nature“ einen Anspruch auf Wahrheit?

Die Veröffentlichung in begutachteten Fachzeitschriften ist sicherlich eine gute Möglichkeit, die Belastbarkeit der Ergebnisse zu überprüfen. Wir müssen aber mit der Unsicherheit leben. Es sollte jedoch das Vorsorgeprinzip gelten. Wenn wir die Gefährlichkeit unseres Handelns nicht genau bestimmen können, dann sollten wir es nicht darauf anlegen, es herauszufinden.

Wie lange oder wie genau muss ein Wissenschaftler forschen, bis er sicher ist, dass die Ergebnisse der Wahrheit entsprechen? Oder gibt es diese im engen Sinne von René Descartes gar nicht?

Eine absolute Wahrheit kann es in der Wissenschaft nicht geben. Es entspricht auch nicht unserer Lebenspraxis, immer nach hundertprozentiger Sicherheit zu verlangen. Wenn wir etwa eine stark befahrene Straße überqueren möchten, schätzen wir intuitiv die Wahrscheinlichkeit ab, ob wir von einen Auto erfasst werden könnten. Bei einer Wahrscheinlichkeit von 50:50 würde niemand die Straße überqueren. Warum verlangen wir bei Umweltfragen stets nach der absoluten Wahrheit?

Wenn Wissenschaftler nie die Wahrheit im Sinne von Descartes finden, dürfen sie dann überhaupt Aussagen treffen, die einen gewissen Anspruch auf Wahrheit erheben? Oder werden sie dadurch angreifbar?

Als Wissenschaftler darf ich nicht den Anspruch auf Wahrheit erheben. Das tut im Allgemeinen aber auch kein Wissenschaftler. Das Problem ist die öffentliche Wahrnehmung der gemachten Aussagen. Ein Konjunktiv wird nicht als solcher wahrgenommen und eine Annahme, unter der etwas eintreten könnte, nicht zur Kenntnis genommen. Die Wissenschaft findet sich überdies in einer eigenartigen Rolle wieder. Eigentlich müssten doch diejenigen, die die Natur belasten, zeigen, dass ihre Technologie umweltverträglich ist. Warum dreht man bei Umweltfragen die Beweislast um?


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 93. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 93

No. 93August / September 2012

Von Nikolaus Gelpke

Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe mareTV im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel.

Mehr Informationen
Vita Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe mareTV im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel.
Person Von Nikolaus Gelpke
Vita Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe mareTV im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel.
Person Von Nikolaus Gelpke