Eine Geschichte der kurzen Zeit

Die Sanduhr war das erste Instrument einer neuen Idee von Zeit. Wichtig wurde nun vor allem der Abstand zweier Zeiten

Ihren Erfinder kennt man nicht. Doch es war wohl der Mönch eines mittelalterlichen Klosters, der die erste Sanduhr ersann. Vielleicht in Chartres, zu dessen Kathedrale als Portalschmuck auch ein lächelnder Engel gehört, der eine Sonnenuhr im Arm trägt – ein freundlicher Mahner, die Zeit zu nutzen. Es war das klösterliche Bedürfnis nach präziser Einhaltung der Stundengebete, das die Erfindung der Sanduhr inspirierte.

Die Innovation aus den Ordenshäusern verbreitete sich rasch auch im profanen Leben. Die Städte blühten im Spätmittelalter auf und entwickelten sich zu Manifestationen eines neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins. Handel und Gewerbe weiteten sich aus, Gilden und Zünfte gewannen an Macht und Reichtum, prächtige Rathäuser wurden gebaut, Universitäten gegründet.

Mit diesem Wandel des städtischen Lebens veränderte sich auch die Zeitordnung. Öffentliche Uhren verbreiteten sich und sorgten für die Präzisierung von Arbeitsabläufen und Zusammenkünften. An die Stelle der Sonnenzeit tritt die Uhrzeit. Doch für die Festlegung und Kontrolle kürzerer Intervalle taugten die frühen Uhren der Kirchtürme und Rathäuser nicht. Parallel zu den aufwendigen Räderuhren verbreiteten sich jetzt die einfachen, exakten und preiswerten Sanduhren. Bei ihnen geht es nicht um die Uhrzeit, sondern um die Begrenzung von Abläufen. Sie sind die Präzisionsinstrumente der neuen Epoche.

In den Rechnungsbüchern des Steinbruchs von Candoglia, in dem der Marmor für den Bau des Mailänder Domes gewonnen wurde, tauchen 1392 zwei Halbstundensanduhren auf, die vermutlich der Pausenzeitkontrolle dienten. In einer Arbeitszeitordnung für die Kalfaterer auf den Werften von Genua aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist festgelegt, dass die Mittagspause „eine Uhr“ und die Vesperpause „eine halbe Uhr“ dauern darf. Auch bei den Torturen der Inquisitions­gerichte wurden für die Einhaltung der akribisch vorgeschriebenen Dauer der Folter und der Pausen Sanduhren verwendet.

Besondere Karriere machte die Sanduhr als Befristungsmittel auf den Kirchenkanzeln. „Um der Kinder Willen“, deren Neugier und Aufmerksamkeit nicht überfordert werden sollten, hatte sich schon Luther gegen zu lange Predigten ausgesprochen. Ihm schlossen sich viele Kirchenordnungen an, „auch um dem Hausvater und dem Gesinde die Zeit der häuslichen Arbeit nicht zu stehlen“ und „damit die Zuhörer nicht überschüttet, die Schwangeren nicht beschwert werden, die schlecht Gekleideten nicht frieren und die Armen ihr Essen richten können“. Die Kanzelsanduhren, die für die Befristung der Predigten auf maximal eine Stunde sorgen sollten, wurden eigens so groß gebaut, dass nicht nur der Geistliche, sondern auch die Gemeinde das Verrinnen von Sand und Zeit verfolgen konnte.

Auch außerhalb der Kirchen wurde das taillierte „Stundenglas“, aus dessen oberer birnenförmiger Ampulle der Sand durch eine schmale Öffnung in die untere rann, bei immer mehr Gelegenheiten verwendet. Es kontrollierte Redezeiten, Vorlesungen, Bäder, Kochvorgänge, Anstandsbesuche, Unterrichtspausen, Brenndauer von Ziegeln und Keramik etc.
Schon zum Ende des 14. Jahrhunderts ist die Sanduhr ein üblicher Gegenstand in bürgerlichen Haushalten. Zu den pedantischen Vorschriften, die ein alter Mann in Paris, der eine viel zu junge Frau geheiratet hat, seiner Gattin für die Haushaltsführung macht, gehört auch die Zubereitung des Uhrensands: Sie habe das Pulver von gesägtem schwarzem Marmor zu nehmen, es neunmal gründlich in Wein zu kochen, es neunmal abzuschäumen und es neunmal in der Sonne trocknen zu lassen.

Marmor scheint eine gängige Basis für den Uhrensand gewesen zu sein. Daneben gab es gemahlenen roten Sand aus natürlichen Vorkommen, der in einer Pfanne gebrannt wurde, damit die Farbintensität noch zunahm und die Rieselfähigkeit sich verbesserte. Auch weißer Sand wurde verwendet, der aus gebrannten und gemahlenen Eierschalen gewonnen wurde, seltener grüner Sand aus lokalen Vorkommen, unter anderem aus einer Höhle bei Nürnberg. Besonders wertvoll war „venetianischer Sand“ aus feinem Bleigranulat.


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mare No. 123

No. 123August / September 2017

Von Peter Sandmeyer und Pascal Cloëtta

Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, ist Autor in Hamburg. Sein Verhältnis zu Zeitmessern ist pragmatisch. Nur groß sollen sie sein, damit sie leicht ablesbar sind.

Pascal Cloëtta, geboren 1975 in Zürich, studierte Kommunikations- sowie Animationsdesign in Hamburg, wo er auch heute lebt und arbeitet.

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Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, ist Autor in Hamburg. Sein Verhältnis zu Zeitmessern ist pragmatisch. Nur groß sollen sie sein, damit sie leicht ablesbar sind.

Pascal Cloëtta, geboren 1975 in Zürich, studierte Kommunikations- sowie Animationsdesign in Hamburg, wo er auch heute lebt und arbeitet.
Person Von Peter Sandmeyer und Pascal Cloëtta
Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, ist Autor in Hamburg. Sein Verhältnis zu Zeitmessern ist pragmatisch. Nur groß sollen sie sein, damit sie leicht ablesbar sind.

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