Eine eigentümliche Vorliebe für die See

Viele Monate verbrachte der Forschungsreisende Alexander von Humboldt auf See, er fuhr 16 000 Seemeilen auf zwei Ozeanen und sammelte dabei so viele Erkenntnisse, dass er heute als Vordenker der Ozeanografie verehrt wird

Oostende, Juni 1790. Beim ersten Anblick des Meeres beginnt er, überwältigt von seiner Sehnsucht, zu weinen. Alexander von Humboldt ist schon 20, doch er weint wie ein Kind. Eine Schwäche schüttelt ihn, fast eine Ohnmacht, als wollte sein Körper rebellieren. Gegen was? Sein Begleiter, der Schriftsteller Georg Forster, 35, ist ratlos. „Ich glaube, sein Körper leidet, weil die rein logische Erziehung der Berliner Professoren seinen Kopf gar zu sehr mitgenommen hat“, notiert er.

Der Junge am Kai des belgischen Hafens versteht sich selbst am allerwenigsten. Später wird er schreiben, dass „in einem jungen Gemüt, das 18 Jahre lang im väterlichen Hause gemisshandelt und in eine dürftige Sandnatur eingezwängt worden ist“, ein starker Freiheitswille existiert. Das Meer, das ihn überallhin bringen könnte, macht ihm schmerzhaft seine Unfreiheit deutlich. Und zugleich fühlt er eine „brennende Sehnsucht nach dem Fernen und Ungewissen, nach den Gefahren des Meeres, den Abenteuern“.

Tage später, in einer Pension in London, erwacht er morgens, sein Blick fällt auf ein Bild an der Wand, eine südliche Szene, Schiffe segeln in die Bucht von Tahiti ein, und wieder spürt er die Tränen, die ihm über die Wangen laufen. Nachmittags liest er ein Plakat: „Junge Leute, welche ihr Glück außerhalb Europas suchen wollen, als Schreiber, als Matrose gesucht. Das Schiff ist segelfertig nach Bengalen.“

Flucht! Das scheint der Schlüssel zur Lösung seiner Probleme zu sein. Es wäre für den jungen Baron von Humboldt der definitive Abschied von seinem bisherigen Leben, von Preußen, vom elterlichen Schloss Tegel, von seinem Bruder Wilhelm und dem ganzen „Ekel auf die bürgerlichen Verhältnisse und die feinere Welt“. In einer Notiz, die er viele Jahre später verfasst und mit dem Randvermerk „Nie drucken lassen“ versieht, erinnert er sich an die „entbehrende Einsamkeit“ seiner Jugend, an die „tausendfältigen Zwänge“ und das „traurige Leben unter Menschen, denen ich in keiner einzigen Empfindung begegnete“, in Verhältnissen obendrein, „in denen ich zu ständiger Verstellung gezwungen war“.

Ein wichtiger Aspekt dieser „Verstellung“ ist die geheime und ihn selbst irritierende Art seiner sexuellen Wünsche und Träume. Er schreibt glühende Liebesbriefe an eine verheiratete und deutlich ältere Dame der Gesellschaft, Henriette Herz, schwelgt aber ebenso in Liebesbeteuerungen und Herzensergüssen, die er an junge Männer richtet. Drei Jahre später, als er sich leidenschaftlich in Reinhard von Haeften verliebt, wird sich alles geklärt haben: „Ich lebe nur noch durch dich, lieber Reinhard, und ich kann nur glücklich sein, wenn ich bei dir bin.“

Aber in diesen Londoner Junitagen des Jahres 1790 ist der junge Alexander nur verwirrt. Das Gefühl, auf unerträgliche Weise „anders“ zu sein als die anderen, lässt ihm die Flucht als einzigen Ausweg erscheinen: „Ich wäre in die fernste Südsee geschifft, auch wenn ich nie einen wissenschaftlichen Zweck erfüllt hätte.“

An seiner Südseesehnsucht ist der Mann, der ihn begleitet, nicht ganz unschuldig: Georg Forster hat James Cook bei einer seiner legendären Weltumsegelungen begleitet und darüber das wunderbare Buch „A Voyage Round The World“ geschrieben, einen Bestseller dieser Zeit – es ist Alexanders Lieblingsbuch. Die Südsee, liebliche Inseln, friedliche Menschen, die ganz im Einklang mit der Natur leben: das Paradies. Alexander erlebt während seines Aufenthalts in London die entscheidende Krise seines Lebens, Aufbäumen, Rebellion, schließlich der körperliche Zusammenbruch. „Ich schrieb verrückte Briefe an meine Freunde und wurde mir selbst von Tag zu Tag unverständlicher.“

Über Paris kehren sie zurück. Ganz vage hat Alexander sich eine Zukunft ausgedacht, eine Rettung. „Ich hatte entfernte Pläne geschmiedet.“ Neun Jahre später wird er im spanischen La Coruña die Reise nach Südamerika antreten, der „Traum meines ganzen Lebens“ wird in Erfüllung gehen. Es ist eine der bedeutendsten Forschungsreisen des 19. Jahrhunderts und die erste, die ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken dient, keiner Eroberung, keinem kolonialen Machtgewinn. Sie wird Alexander in tiefe Höhlenlabyrinthe, über reißende Flüsse, auf kubanische Zuckerfelder und schließlich auf die eisigen Höhen der höchsten Vulkane der Welt führen.

Doch er wird dabei auch viele Tage auf See verbringen, für die er stets seine „eigentümliche Vorliebe“ bewahrt, wird 16 000 Seemeilen auf zwei Ozeanen segeln und dabei unermüdlich Daten sammeln. Heute, 150 Jahre nach seinem Tod, gilt er als großer Vordenker der Meeresforschung. Das umfangreiche Datenmaterial des „World Ocean Circulation Experiment“ bestätigt, wie der Kieler Meeresforscher Gerhard Kortum sagt, „in großartiger Weise viele Erkenntnisse, die Humboldt als Erster formuliert hat“.


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mare No. 77

No. 77Dezember 2009/ Januar 2010

Von Werner Biermann

Den Spuren Humboldts folgend, befuhr Werner Biermann, Jahrgang 1945, Autor und Filmemacher in Köln, mit dem Boot den Orinoco, durchquerte das Hochland der Anden und bestieg Vulkane wie den Chimborazo. 2008 erschien Biermanns Buch Der Traum meines ganzen Lebens, in dem er Humboldts berühmte Amerikareise nachzeichnet.

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Vita Den Spuren Humboldts folgend, befuhr Werner Biermann, Jahrgang 1945, Autor und Filmemacher in Köln, mit dem Boot den Orinoco, durchquerte das Hochland der Anden und bestieg Vulkane wie den Chimborazo. 2008 erschien Biermanns Buch Der Traum meines ganzen Lebens, in dem er Humboldts berühmte Amerikareise nachzeichnet.
Person Von Werner Biermann
Vita Den Spuren Humboldts folgend, befuhr Werner Biermann, Jahrgang 1945, Autor und Filmemacher in Köln, mit dem Boot den Orinoco, durchquerte das Hochland der Anden und bestieg Vulkane wie den Chimborazo. 2008 erschien Biermanns Buch Der Traum meines ganzen Lebens, in dem er Humboldts berühmte Amerikareise nachzeichnet.
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