Als die amerikanische Schriftstellerin Djuna Barnes (1892 – 1982) im Jahre 1919 erstmals nach Europa ging, hatte sie bereits eine Laufbahn als eigenwillige Journalistin, Lyrikerin, Verfasserin von Erzählungen und als Bohèmienne des New Yorker Viertels Greenwich Village hinter sich. Paris wurde in den zwanziger und dreißiger Jahren ihr ständiger Aufenthaltsort. Ihre erste Überfahrt beschrieb sie für eine amerikanische Zeitschrift so:
„Jahrelang träumt unsereiner von Paris, wieso eigentlich weiß kein Mensch. (…) Und so geschah es, daß auch ich nach Europa kam. Es war ein Ein-Klassen-Schiff – für Menschen ohne Unterscheidungsvermögen. Die Fracht bestand hauptsächlich aus enttäuschten Lehrern aus dem Mittleren Westen, die an Deck saßen und mit höhnischer Miene Gratisobst aßen. Am Abend wechselten sie dann in den Salon, wo sie Triple sec tranken und beim Kartenspiel zu gewinnen versuchten. Ein paar dachten, sie seien festlandeuropäisch, wenn sie ausländischen Umarmungen nachgaben.“
– Vagaries Malicieuses, 1922
Djuna Barnes war eine der vielen amerikanischen Intellektuellen der sogenannten „lost generation“ nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, die Amerika verließen, um sich in Europa niederzulassen. Die zwanziger Jahre, die als „Roaring Twentys“ in die Geschichte eingingen, bildeten in Amerika ein Jahrzehnt des Widerspruchs. Vordergründig war es eine Dekade der wirtschaftlichen Prosperität, des technischen Fortschritts, der satten Selbstzufriedenheit und des materiellen Genusses. Für die amerikanischen Intellektuellen jedoch begann das Jahrzehnt mit einer Welle der Desillusionierung und des Überdrusses, einem Gefühl von Sinnlosigkeit und der Auflehnung gegen einen überkommenen viktorianischen, äußerst puritanischen Moralkodex, der quer zur Fortschrittlichkeit der Großstädte an der Ostküste lag und sich in unangenehmen Zensurmaßnahmen äußerte. So waren keineswegs nur enttäuschte Lehrer aus dem Mittleren Westen nach Europa unterwegs, wie Djuna Barnes schreibt. Eine große Zahl von Literaten und Künstlern, unter ihnen sehr viele künstlerisch tätige Frauen, die den herrschenden prüden Moralvorstellungen entfliehen wollten, zog es nach Ende des Krieges nach Europa, ins Zentrum der kulturellen Auseinandersetzung und Innovation. Amerika erschien ihnen trotz Bohème-Zirkel an der Ostküste als unkultiviert. Als interessanteste Kulturnation galt Frankreich, auch wenn Djuna Barnes mit ironisch gespitzter Feder die Ankunft in Frankreich nicht unbedingt als Ankunft im gelobten Land schildert:
„Eines Morgens sprang die Französin, die meine Kabine bewohnte, mit einem Aufschrei aus ihrer Koje und rief: ,Ah, unvergleichliches Frankreich!‘ oder sonst Worte in diesem Sinne. Le Havre lag vor uns. Zwei kleine französische Kinder standen am äußersten Ende einer vorspringenden Landspitze und riefen zum Lotsenschiff hinüber, das gerade eben abstieß. Hinter ihnen ragte eine fensterlose Mauer empor, und ein riesengroßes, aber schäbiges Schild kündete von einer minderklassigen französischen Seifenmarke. Von Le Havre nimmt man einen Zug. Der Zug hat Anschluß an das Schiff. Ja, eigentlich könnte man sagen, der Zug kommt das Boot holen. Er kriecht eine Straße mit Kopfsteinpflaster hinauf und stupst die Nase fast in die Nase der See.“
– Vagaries Malicieuses, 1922
Paris lockte als Zentrum der avantgardistischen Moderne in Europa – sowohl in der Malerei als auch in der Literatur. Bereits der amerikanische Schriftsteller Henry James (1843 – 1916) war 1875 nach Paris gereist, um Gustave Flaubert, den Autor der „Madame Bovary“, kennenzulernen. Picasso und Braque hatten hier um 1906 mit kubistischer Darstellung experimentiert; Dada und Surrealismus kündigten sich an.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zogen zwei Frauen von Amerika nach Paris, die der modernen amerikanischen Literatur einen wichtigen Boden bereiten sollten. Die eine war die Mäzenin Natalie Clifford Barney (1876 – 1972), die andere die Schriftstellerin Gertrude Stein (1874 –1946). Natalie Clifford Barney unterhielt in Paris an der Rue Jacob einen Salon und initiierte Begegnungen zwischen französischen und anglo-amerikanischen Autorinnen und Autoren. Sie schätzte kluge Männer und liebte schöne und begabte Frauen, Natalie Barneys Haus wurde zu einem der inspirierendsten und sagenumwobensten Treffpunkte der lesbischen Berühmtheiten. Djuna Barnes verewigte diese Zeit denn auch in ihrem – 1928 anonym erschienenen – „Ladies’ Almanach“, einem satirischen Bericht über Natalie Barneys illustren Freundeskreis.
Entscheidend geprägt jedoch wurde die anglo-amerikanische Avantgarde-Literatur durch Gertrude Stein. Sie lebte seit 1903 zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Alice B. Toklas mit wenigen Unterbrechungen bis zu ihrem Tode in Frankreich. Die beiden empfingen in ihrem Salon Künstler und Literaten, darunter den jungen Ernest Hemingway sowie Pablo Picasso und Henri Matisse. Gertrude Stein lieferte in ihrer Erzählung „Paris France“ aus dem Jahr 1940 Gründe, die es für Literaten gab, sich um die Jahrhundertwende in Paris niederzulassen:
„So war Paris der natürliche Hintergrund für das zwanzigste Jahrhundert, Amerika kannte es zu gut, kannte das zwanzigste Jahrhundert zu gut, um es zu erschaffen, für Amerika gab es einen Glamour im zwanzigsten Jahrhundert, der es nicht zum Stoff für schöpferische Tätigkeit machte. England lehnte bewusst das zwanzigste Jahrhundert ab, sehr genau wissend, dass sie das neunzehnte Jahrhundert glorreich geschaffen hatten, und vielleicht würde sich das zwanzigste Jahrhundert als zu viel für sie erweisen, so leugneten sie ganz bewusst das zwanzigste Jahrhundert, aber Frankreich machte sich darüber keine Sorgen was ist war und was war ist, war ihr Standpunkt dessen sie sich nicht sehr bewusst waren.“
– Paris France, 1940
Die Nachrichten, die aus Paris über den Atlantik in die Künstlerviertel der Ostküste drangen, klangen vielversprechend. Mit dem starken Dollar konnte man im inflationsgeschüttelten Europa der zwanziger Jahre fast ohne Geld ein anständiges Leben führen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller – es sollen mehrere Hundert gewesen sein – reisten aus Amerika in Paris an, mieteten sich in billigen Hotels im Quartier Latin oder in Montparnasse ein, verbrachten viel Zeit in den einschlägigen Cafés und hielten sich mit Journalismus und dem Schreiben von Kurzgeschichten über Wasser. Die berühmteste unter den Journalistinnen, Janet Flanner, sandte seit 1925 unter dem Pseudonym Genêt regelmäßig ihre „Letters from Paris“ ins Magazin „New Yorker“. Beim Rückblick auf die Zeit in Paris in den siebziger Jahren schreibt sie:
„Die amerikanischen Expatriots waren reich an künstlerischen Ambitionen und relativ arm an finanziellen Mitteln. Die meisten von uns überquerten den Atlantik in der dritten Klasse. Wir ließen uns in kleinen Hotels am linken Ufer nieder, in der Nähe von Place Saint-Germain-des-Près. Jeder von uns hatte vor, so bald wie möglich ein berühmter Schriftsteller zu werden.“
– Paris was Yesterday, 1972
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Sibylle Omlin, geboren 1965, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, lebt im Wallis und Zürich. Neben Arbeit bei der Neuen Zürcher Zeitung war sie auch als Dozentin für Kunsttheorie, freie Kuratorin und Autorin tätig. Von 2001 – 2009 war sie Professorin am Institut Kunst der HGK Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel und zwischen 2009 – 2017 Direktorin an der ECAV Sierre (Ecole cantonale d’art du Valais). Sie ist Autorin und Herausgeberin von zahlreichen Büchern und Katalogen zu Kunst im öffentlichen Raum, Kunst in Landschaft und sozialen Kontexten, elektronische Kunst und Performance.
Vita | Sibylle Omlin, geboren 1965, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, lebt im Wallis und Zürich. Neben Arbeit bei der Neuen Zürcher Zeitung war sie auch als Dozentin für Kunsttheorie, freie Kuratorin und Autorin tätig. Von 2001 – 2009 war sie Professorin am Institut Kunst der HGK Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel und zwischen 2009 – 2017 Direktorin an der ECAV Sierre (Ecole cantonale d’art du Valais). Sie ist Autorin und Herausgeberin von zahlreichen Büchern und Katalogen zu Kunst im öffentlichen Raum, Kunst in Landschaft und sozialen Kontexten, elektronische Kunst und Performance. |
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Person | Von Sibylle Omlin |
Vita | Sibylle Omlin, geboren 1965, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, lebt im Wallis und Zürich. Neben Arbeit bei der Neuen Zürcher Zeitung war sie auch als Dozentin für Kunsttheorie, freie Kuratorin und Autorin tätig. Von 2001 – 2009 war sie Professorin am Institut Kunst der HGK Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel und zwischen 2009 – 2017 Direktorin an der ECAV Sierre (Ecole cantonale d’art du Valais). Sie ist Autorin und Herausgeberin von zahlreichen Büchern und Katalogen zu Kunst im öffentlichen Raum, Kunst in Landschaft und sozialen Kontexten, elektronische Kunst und Performance. |
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