Eine Alternative zum Krieg

Vor 140 Jahren wies das Gerichtsverfahren um das amerikanische Kriegsschiff „Alabama“ in Genf den Weg zur friedlichen Beilegung internationaler Konflikte. Es wurde zum Vorbild für den Haager Schiedshof und die Mechanismen des Völkerbunds

Der 15. Juni 1872 fiel auf einen Samstag. Es war ein schöner Sommertag in Genf, Touristen flanierten auf den Quais entlang des Seeufers, den schneebedeckten Gipfel des Mont Blanc im Blick. Auf dem Wasser kreuzten Ausflugsboote, Kapellen spielten die neuesten Schlager. In den engen Gassen der Altstadt aber verloren sich die Klänge, und im Rathaus mit seinen grauen Mauern und strengen Arkaden herrschte eine geschäftsmäßige Atmosphäre.

Hinter verschlossenen, von Amtsdienern in rot-gelber Robe bewachten Türen tagte ein außergewöhnliches Gericht. Kläger waren die USA; auf der Anklagebank saß Großbritannien. Es ging um Schadensersatz in Höhe mehrerer Millionen Dollar, die die junge Republik vom einstigen Mutterland forderte.

Der Anlass für den Streit lag zehn Jahre zurück. Die USA waren in Nord und Süd gespalten. Die Unionisten des Nordens kämpften gegen die Südstaatenkonföderierten. Zwar hatte sich Großbritannien im Amerikanischen Bürgerkrieg für neutral erklärt. Das verhinderte jedoch nicht, dass 1862 auf einer Werft in der Nähe von Liverpool ein Schiff seiner Vollendung entgegenging, das als Kaperfahrer der Konföderierten Berühmtheit erlangen sollte. Die „CSS Alabama“, nicht nur in England gebaut, sondern auch von einer mehrheitlich britischen Besatzung geführt, versenkte rund 60 Schiffe der Union. Erst am

19. Juni 1864 fand der Spuk ein Ende, als das „Confederate States Ship“ (CSS) vom Nordstaatenkriegsschiff „USS Kearsarge“ vor Cherbourg versenkt wurde.

Die „Alabama“ war nicht das einzige konföderierte Kriegsschiff, das auf einer englischen Werft gebaut worden war. Und der angerichtete Schaden für die Union beschränkte sich auch nicht auf den Verlust von Schiffen, Fracht und Mannschaften. Das Treiben der Kaperschiffe hatte die Versicherungsprämien für Handelsschiffe der Nordstaaten ins Unermessliche steigen lassen. Der Handel wich auf Alternativen aus, und diese führten zumeist die britische Flagge.

1865, nach dem Ende des Bürgerkriegs, wurde in den USA der Ruf nach Kompensation laut. Ein militärischer Vorstoß nach Kanada schien immer wahrscheinlicher. Aber es gab eine Alternative zu einem Krieg: Schon 1864 hatte sich der amerikanische Anwalt Thomas Balch für ein Schiedsgerichtsverfahren ausgesprochen, sekundiert wurde er darin von der „New York Times“. Angesichts der militärischen Stärke der USA gewann die Idee auf britischer Seite mehr und mehr Sympathien. Zudem geriet in Europa die Lage zunehmend aus dem Gleichgewicht. 1870, mitten im Deutsch-Französischen Krieg, war für Großbritannien die Zeit endgültig gekommen, sich mit den USA auszusöhnen. Den Briten war auch klar geworden, dass die Amerikaner in einem europäischen Seekrieg das Gleiche tun könnten wie sie während des Bürgerkriegs: Kaperschiffe oder Blockadebrecher für einen Gegner bauen, den man ansonsten in seinen Häfen sicher eingeschlossen hielt.

Verbindliche Regeln über die Pflichten neutraler Staaten in einem Seekrieg zu etablieren wurde für die damals erste Seemacht immer dringender. Auf dem Weg dahin aber musste Großbritannien zunächst eine Kröte schlucken: ein Schuldeingeständnis für die durch die „Alabama“ und andere aus britischen Häfen ausgelaufene konföderierte Kaperschiffe entstandenen Schäden. Dies geschah im Mai 1871 mit der Unterzeichnung des Vertrags von Washington. Darin war die britische Schuld festgehalten, aber auch die Pflichten neutraler Staaten in einem Seekrieg. Was nun noch fehlte, war die Bestimmung der Schadensersatzsumme. Diese sollte ein Gericht festlegen.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren internationale Streitigkeiten, wenn nicht mit Waffengewalt, dann allenfalls durch den Schiedsspruch eines Kaisers oder Königs geschlichtet worden. In diesem Fall aber wäre es schwierig gewesen, überhaupt einen neutralen Herrscher zu finden. Darüber hinaus hatte insbesondere Großbritannien ein Interesse an einem begründeten Urteilsspruch, an juristischer Verbindlichkeit, an einem Präzedenzfall, der die Seemacht in Zukunft schützen könnte. Man erinnerte sich also an die Idee von Thomas Balch. Das Verfahren sollte von Juristen geführt werden, die zudem diplomatisches Fingerspitzengefühl besaßen.

Die Parteien einigten sich auf fünf Richter: je einen Repräsentanten der beiden Parteien, drei weitere als unabhängige Stimmen. Damit legten die USA und Großbritannien eine Form fest, wie sie heute noch bei zivilen wie auch bei internationalen Schiedsgerichtsverfahren üblich ist. Was als „Alabama claims“, „Alabamaforderungen“, in die Geschichtsbücher eingehen sollte, war also eine Premiere.


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mare No. 93

No. 93August / September 2012

Von Ronald Schenkel

Ronald Schenkel, Jahrgang 1964, ist Redaktionsleiter der NZZ Campus. Die Stelle mit dem Wrack der „Alabama“ vor Cherbourg hat er auf seinem Segelschiff öfter passiert, ohne zu wissen, was da unter ihm liegt. Das nächste Mal will er Haltung annehmen, so gut es auf schwankenden Planken eben geht.

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Vita Ronald Schenkel, Jahrgang 1964, ist Redaktionsleiter der NZZ Campus. Die Stelle mit dem Wrack der „Alabama“ vor Cherbourg hat er auf seinem Segelschiff öfter passiert, ohne zu wissen, was da unter ihm liegt. Das nächste Mal will er Haltung annehmen, so gut es auf schwankenden Planken eben geht.
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Vita Ronald Schenkel, Jahrgang 1964, ist Redaktionsleiter der NZZ Campus. Die Stelle mit dem Wrack der „Alabama“ vor Cherbourg hat er auf seinem Segelschiff öfter passiert, ohne zu wissen, was da unter ihm liegt. Das nächste Mal will er Haltung annehmen, so gut es auf schwankenden Planken eben geht.
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