Eine Ahnung von Fernweh

Der Berliner Multikünstler Wenzel ist in der DDR aufgewachsen. Ihm war die Ostsee zur Metapher für Grenzenlosigkeit geworden, die wenigstens theoretische Möglichkeit, überallhin zu kommen. Das prägt sein Schaffen bis heute

Das einzig Unoriginelle an Wenzel ist der Name seiner Katze. Sie heißt Miez. Miez hat das große Glück, in einer Wohnung in Berlin zu leben, der irgendwie ohne eine Katze etwas fehlen würde. Auf dem gescheuerten hölzernen Esstisch steht ein Teller mit Kuchen, ein Krug Wasser, Gläser. Neben einem davon sitzt Miez. Auf offenbar selbst gebauten Regalen reihen sich bis zur hohen Decke zerlesene Bücher, Bildbände, Magazine, die Holzdielen knarren, wenn man in Wenzels Arbeitszimmer hinübergeht. Wieder Bücher, Folianten, ein Klavier mit Notenblättern, alte Jugendzimmer-Schreibtischleuchten, kaum zwei gleiche Stühle, überall der Blick in die Hinterhöfe des Prenzlauer Berges. In jedem Raum anderes Licht und andere Farben. Nicht eine Ecke, die nach Ikea aussieht. Wenzel ist schon länger nicht mehr umgezogen, und das muss er einem gar nicht erst erzählen. Wenzel wohnt gern und viel und ziemlich intensiv in dieser Wohnung, auch das ist nicht zu übersehen.

Manchmal aber zieht es Wenzel ganz woanders hin. Dann nimmt er seine Gitarre und einen wahrscheinlich kleinen Koffer und fährt gen Norden, bis es nicht mehr weitergeht. Dort riecht es wie zu Wenzels Kindertagen in den großen Ferien, wenn er mit seinen vier Schwestern und den Eltern in die Sommerfrische fuhr. Morgens um neun sind alle mit dem Rad zum Strand gefahren, abends um neun war man wieder im Quartier. „Ich habe da den ganzen Tag im Sand gespielt“, sagt Wenzel, „und wilde Träume entwickelt, mit der Luftmatratze in die Welt hinauszufahren.“ Es blieben zum Glück nur Träume, denn vermutlich hätten sie ihn erwischt, die Grenzer an den Radaranlagen. Denn Wenzel ist ein Kind der DDR, geboren im Juli des Jahres 1955 in Kropstädt, Kreis Wittenberg.

Heute steht auf seiner Website irgendwo die Frage, die auch Sie sich vielleicht gerade stellen: „Wer ist Wenzel?“ Eine heimtückisch gute Frage, denn sie lässt sich kaum beantworten. Jedenfalls nicht kurz und knapp. Wenzel ist zunächst einmal Lebemann und hauptberuflich ein Poet. Und da wird es auch schon schwierig, denn Wenzel fällt eigentlich anfangs als Intellektueller auf. Was übrigens, anders als viele Menschen heute glauben, gar kein bedauernswerter Zustand ist. Dort aber, von woher die meisten Menschen ihn gut kennen, auf der Bühne nämlich, ist Wenzel eher Poet. Und Musiker. Er singt, er spielt Akkordeon, Gitarre und auch das Klavier. Zwischendrin wird er zum Gaukler, Komödianten und zum Clown.

Wer ihn zum ersten Mal so sieht, erschrickt vielleicht, wie man erschrocken wäre, plötzlich ein Mammut in der Uckermark zu sehen, ein lebendiges. Man kann Wenzel nicht nur bemerken wie das erste graue Haar oder einen besonders dicken Mann im Bus, man muss ihn für sich entdecken. Was etwa so spannend ist wie das pubertäre Lesen der ersten erotischen Literatur mit der Taschenlampe unter der Bettdecke.

Doch kehren wir zurück auf den Darß, jene vom salzigen Wind aufgeraute Halbinsel in der Ostsee, die Wenzel so oft besuchte, als seine Lehrer ihn noch beim Vornamen Hans-Eckardt nannten, was inzwischen niemand mehr tut und er selbst auch gar nicht gerne hört. Der kleine Umweg über das Meer nämlich scheint die beste, vielleicht sogar einzige Möglichkeit, sich diesen wunderbaren Menschen und Künstler zu erschließen, wenigstens ein bisschen. Ohne das Meer wäre Wenzel ein Anderer und womöglich gar kein Poet.

„Der Darß“, sagt Wenzel, „ist ja inzwischen das kleine Sylt geworden. Als ich als Kind da war, gab es noch die alten Fischer, die einen auf den Arm nahmen, und den Briefträger, dem drei Finger fehlten seit dem Krieg. Eine ganz eigenartige, auch irgendwie grobe Welt. Der Geruch von diesen alten Lehmkaten, den Fischerhütten, in denen man gewohnt hat. Der Donnerbalken, auf den man gehen musste und vor dem man auch Angst hatte, weil da Spinnen waren. Die unglaublichen Mücken am Bodden. Und dieser Geruch nach Tang, wenn das Meer manchmal so atmet. Raffaele Berti sagte mal, das röche nach der Sehnsucht einer verlassenen Frau.“ So langsam nähern wir uns den Liedern Wenzels.

Allerdings sollte dem Prolog keinesfalls seine politische Dimension abhandenkommen, die in engem Zusammenhang mit Wenzels Liebe zum Meer steht. Auch wenn so ein Poet fast nie zum Politisieren neigt. „Diese Ahnung von Fernweh, die mich am Meer befällt“, sagt Wenzel, „hängt natürlich auch mit meiner Biografie zusammen. Ich bin in einem Land groß geworden, in dem ich das richtige Meer nie sehen konnte, man konnte ja nur an der Ostsee herumhängen, die eigentliche Welt war mir versperrt. Zum ersten Mal sah ich ein richtiges Meer am Pazifik.

Meine Ausreise aus der DDR fand nicht nach Westdeutschland und auch nicht dauerhaft statt, ich bemühte mich, als ich in der DDR nicht mehr so arbeiten konnte, wie ich wollte, nach Nicaragua zu kommen, das war meine Art von Flucht. Da kam ich also zum ersten Mal an den Pazifik und wäre fast sofort ersoffen. Ich ging da rein, wie ich immer in die Ostsee gegangen war, bin also rausgeschwommen – und nicht wieder zurückgekommen. Bis irgendwelche Leute mit einem Seil am Ufer standen, einer von denen schwamm mit einem Seilende zu mir raus, die anderen zogen uns wieder an Land. Da habe ich zum ersten Mal die Grenze des Lebens und unserer Möglichkeiten dem Meer gegenüber begriffen, das hat mich tief geprägt. Mein Blick aufs Meer wandelte sich von einem touristischen zu einem sehr existenziellen.“


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mare No. 81

No. 81August / September 2010

Von Stefan Krulle und Jan Windszus

Stefan Krulle, 1963 in Hamburg geboren, ist Historiker und Germanist, widmet sich in seinen Texten aber mit Vorliebe seiner Leidenschaft: der Musik.

Jan Windszus, 1976 geboren, lebt und arbeitet seit 2005 als freier Fotograf in Berlin. Er genoss es, dem Interview zu lauschen. „Wenzel ist ein Philosoph.“

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Vita Stefan Krulle, 1963 in Hamburg geboren, ist Historiker und Germanist, widmet sich in seinen Texten aber mit Vorliebe seiner Leidenschaft: der Musik.

Jan Windszus, 1976 geboren, lebt und arbeitet seit 2005 als freier Fotograf in Berlin. Er genoss es, dem Interview zu lauschen. „Wenzel ist ein Philosoph.“
Person Von Stefan Krulle und Jan Windszus
Vita Stefan Krulle, 1963 in Hamburg geboren, ist Historiker und Germanist, widmet sich in seinen Texten aber mit Vorliebe seiner Leidenschaft: der Musik.

Jan Windszus, 1976 geboren, lebt und arbeitet seit 2005 als freier Fotograf in Berlin. Er genoss es, dem Interview zu lauschen. „Wenzel ist ein Philosoph.“
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