Ein Zirkus geht auf See

Hans Stosch, Direktor des Zirkusses Sarrasani, geht 1923 auf eine mehrjährige Südamerikatournee. Zwei große Frachtschiffe werden zur Arche für Menschen und Tiere – wahrlich ein Abenteuer

Im Hamburger Hafen

Deutschland ist am Ende. Wer jung ist, flüchtet. Nach Uruguay, wo Gauchos jeden Tag so große Rinderherden den Schlachthäusern am Meer zutreiben, dass sich das Hafenbecken von Montevideo rot färbt. Oder nach Argentinien mit dem fünf Kilometer langen Weizenkai im Hafen von Rosario, der Kornkammer Europas, vor der die größten Frachter der Welt ankern und sich die eisernen Bäuche mit Weizen vollschlagen. Während in Deutschland das Kilogramm Brot bereits 140 Milliarden Mark kostet, wird Südamerika zum gelobten Land.

50 000 Menschen haben Bewerbungen geschrieben, um auf eines der beiden Schiffe zu gelangen, die im November 1923 nach Südamerika auslaufen sollen. Unter den Bewerbern sind Bauern, die ihr letztes Pferd anbieten, „Regierungsräte, die Ställe putzen, Hochschulprofessoren, die Tipparbeiten erledigen wollen“. Noch Monate, nachdem die Schiffe ausgelaufen sind, treffen Körbe voller Bewerbungen bei jenem Mann ein, der sie gechartert hat. Denn dieser Hans Stosch ist ein erfolgreicher Ausreißer, er hat schon einmal auf der Flucht sein Glück gemacht. Er wird es wieder schaffen.

Zehn Tage liegen die „Ludendorff“ und die „Danzig“ jetzt im Hamburger Hafen, seit zehn Tagen ist der Hafen Treffpunkt der Schaulustigen und Sehnsüchtigen. Am Morgen sollen sie auslaufen, die Presse kommt für ein letztes Abendessen an Bord, der Botschafter Uruguays ist anwesend, doch die Kapitäne zögern, ihre Schiffe in den Nebel zu steuern. Erst am 4. November nimmt die „Danzig“ trotz Windstärke neun Kurs auf Südamerika, die „Ludendorff“ aber bleibt im Hafen zurück, mit all ihren Passagieren an Bord.

Darunter auch jenen, die sich heimlich aufs Schiff geschmuggelt haben. Der Jüngste ist 14, der älteste 40 Jahre alt. Sie haben sich in Luftschächte gequetscht, unter Tauen verkrochen, im Maschinenraum und im Heu versteckt, wo sie am Staub fast erstickt sind. Bleich und halb verhungert tauchen nach und nach 16 wankende Gestalten auf, die eigentlich erst auf hoher See aus ihren Verstecken kriechen wollten. Der tagelange Nebel ist ihnen zum Verhängnis geworden.

Einer von ihnen sitzt im Kohlebunker, die Beine dick mit Lumpen umwickelt, einen Sack Proviant neben sich. „Ich hab mir gedacht, das könnte ein bisschen dauern bis Amerika.“ – „Was willst du denn da drüben?“ – „Arbeiten, nix als arbeiten!“ – „Das kannst du auch in Hamburg!“ – „Was Sie nicht sagen! Ich hab’s wochenlang versucht!“ – „Na, dann komm mal mit. Wir brauchen noch ’nen Kohlentrimmer.“

Am 7. November lichtet sich der Nebel. Hans Stosch steht auf der Brücke und betrachtet das Deck, auf dem seine gelben Wagen stehen, einer neben dem anderen, 120 Stück, Gerüste, Masten, Strickwerk, Zelte – sein Lebenswerk. Er hat alles zusammengepackt, zwei Schiffe voll. August Heinrich Kober, ein Berliner Journalist, schreibt, dass ein Lächeln um den Mund des 50-Jährigen spielt, als sich die Nachricht verbreitet, dass sie bald auslaufen werden.

Von Sachsen bis ans Meer

Vielleicht erinnerte sich Hans Stosch an jenen Tag, als er das erste Mal die Flucht ergriff und dem väterlichen Gutshof in Lomnitz den Rücken kehrte. Mehrmals hatte er die Schule wechseln müssen, in Frankfurt, Grünberg, Breslau und Berlin versuchte man dem Jungen, der „nur Unsinn im Sinn“ hatte, etwas beizubringen. Nach einem Streit mit der Gouvernante suchte er das Weite, ausgerüstet mit einem Startkapital von 50 Pfennig, wie er später gern erzählte. Er schlief in Ställen, schloss sich für Kost und Logis einem Wanderzirkus an, bis er nach dem erfolgreichen Kampf mit einem Löwen – so die Legende – zum Tierpfleger aufstieg und seine ersten zehn Mark verdiente.

Anders als in der Schule erwies sich Hans beim Zirkus als fleißig und klug, und während seine Freunde den Lohn beim Wein und beim Tanzen ausgaben, dressierte der „Eigenbrötler“ einen Pudel, bis er Walzer tanzen konnte. Von den Ersparnissen kaufte er einen Ziegenbock, einen Esel und ein Schwein, lauter Tiere, mit denen er schon auf dem Gutshof seinen Spaß hatte, um eine Nummer einzustudieren. Es amüsierte ihn, „Familie Hund am Esstisch“ oder einen „Affen als Gentleman“ vorzuführen. 1892 warb der Chef der „Funny Family“ auf seinen Plakaten nicht mit aufgerissenen Löwenmäulern, sondern mit drei Hunden und einem Schweinchen in bunten Kostümen, und während andere Dompteure sich von Tigern in die Manege ziehen ließen, spannte der Haustierdompteur sechs Gänse vor den Wagen.

1902 legte sich Hans Stosch den Künstlernamen Sarrasani zu und ging mit einem eigenen Zirkuszelt und als „erster deutscher Zirkus mit elektrischer Beleuchtung“ auf Reisen. Er kaufte Lastwagen und Straßendampflokomotiven, reiste nach Brüssel, Wien und Paris, ergänzte den Haustierbestand durch Elefanten, Löwen und Kamele und hatte eines Tages 250 Tiere und 500 Mitarbeiter zu verpflegen. Der unaufhaltsame Aufstieg des Hans Stosch-Sarrasani schien kein Ende zu nehmen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 127. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 127

April / Mai 2018

Von Hans Korfmann

Hans Korfmann, Jahrgang 1956, lebt als freier Autor und Herausgeber der Stadtteilzeitung Kreuzberger Chronik in Berlin. Zirkusgeschichten interessierten ihn bislang wenig, eher Ausreißergeschichten. Aber die enden oft beim Zirkus. Oder eben auf See.

Mehr Informationen
Vita Hans Korfmann, Jahrgang 1956, lebt als freier Autor und Herausgeber der Stadtteilzeitung Kreuzberger Chronik in Berlin. Zirkusgeschichten interessierten ihn bislang wenig, eher Ausreißergeschichten. Aber die enden oft beim Zirkus. Oder eben auf See.
Person Von Hans Korfmann
Vita Hans Korfmann, Jahrgang 1956, lebt als freier Autor und Herausgeber der Stadtteilzeitung Kreuzberger Chronik in Berlin. Zirkusgeschichten interessierten ihn bislang wenig, eher Ausreißergeschichten. Aber die enden oft beim Zirkus. Oder eben auf See.
Person Von Hans Korfmann