Ein Schiff muss fahren

Warten, warten, warten. Aus dem Leben von Kapitänskindern

Die Heimat, die Ferne, dazwischen das Meer. Genua. Batavia. Von Batavia nach Makassar, von Makassar nach Surabaya und zurück. Valparaíso, Belém. Rotterdam. Kiel-Holtenau. Mutters Geschichten und seine Geschichten. Sie spricht von Booten mit bunten Segeln und vom Geruch der Tropen. Von einem schweren Duft nach Nelken. Nach Lorbeer und Zimt und Safran. Ingwer und Muskat. Und die Mangoblüten.

Sie geht an den Schrank und holt Gläser hervor, öffnet die Schraubdeckel und gibt mir den Duft der Tropen zu riechen. „Siehst Du? Das sind Nelken. So riecht es dort. Wo Vater jetzt ist."

Oft sprach sie von Grenada und St. George's Bay, wo sein Schiff lag. Sie erweckte uns den fernen Vater zum Leben. Das Porträt in weißer Uniform, eine Fotografie, die ihn auf der Brücke seines Schiffes zeigt, darunter der ewige Satz: „Navigare necesse est, vivere non est necesse." Wenn wir fragten, was der Satz zu bedeuten habe, sagte sie knapp: „Es bedeutet, dass ein Schiff fahren muss."

Das Bild, Geschenk einer Mannschaft zum Abschied ihres Kapitäns, stand auf der roten Kommode, darüber die Weltkarte, riesengroß. Kleine Nadeln mit bunten Köpfen zeigten seine Routen an. Von Genua nach Batavia. Von Batavia nach Makassar, nach Surabaya und zurück. Und dann, irgendwann, kam immer der Tag.

Sie steht da, schweigend, vor der Karte. Ihr Blick fährt noch einmal den Weg des Schiffes nach, von Stecknadel zu Stecknadel. Dann hebt sie mich auf die Kommode, gibt mir behutsam eine Nadel in die Hand und zeigt feierlich auf einen Flecken, irgendwo nahe dem großen Blau. Rotterdam. Ich stecke die Nadel ein und weiß, dass er jetzt bald kommen wird.

Was folgte, hatte System. Der große Hausputz, die Vorratsnahme, das Braten und Backen, das Feinmachen. Alles gehorcht den Gesetzen eines generalstabsmäßigen Plans, der für mich zwei präzise Aufgaben vorsah: Steh nicht im Weg und geh zu Matthiesen.

Der alte Matthiesen war Herrenfriseur und zählte nicht eben zu den großen Vertretern seiner Zunft. Genau genommen umfasste sein Repertoire eigentlich nur eine einzige Frisur, die er auch nicht mit der Schere herstellte, sondern mit einem Rasierapparat. Das mochte hingehen, solange man klein war und bereit, einen Matthiesen als festen Bestandteil der unergründlichen Weltordnung zu akzeptieren. Später fand ich mich mit langen Haaren schicker. Alle anderen hatten auch lange Haare. Aber da war nichts zu machen. „Steh nicht im Weg", sagte sie von der Leiter herab, „und geh zu Matthiesen."

Wenn Vater nach endlosen Monaten von großer Fahrt nach Haus kam, sorgte Mutter dafür, dass er alles so vorfand, wie er es sich in langen Nächten an Bord zusammengeträumt hatte. Und weil ich in diesem Traum eben mit lächerlicher Frisur vorkam, war es Gesetz. Sie hatte dann so eine Art, einen anzusehen. Dass man überhaupt im Stande war, ihre Herkulesarbeit mit derartigen Nichtigkeiten zu sabotieren. Also blieb es dabei. Ich ging zu Matthiesen und ließ es geschehen. Dann kam er.

Wir holten ihn ab. Wir holten ihn immer ab. Vom Bahnhof in Hamburg. Vom Flughafen. Vom Schiff in Rotterdam. Wir fuhren mit dem Auto. Mutter am Steuer, ich hinten. Neben mir Cordel, meine Schwester, die es mit Kleid und Zöpfchen auch nicht gut getroffen hatte, davon aber nichts wusste.

Ich sehe ihn aus dem Zug steigen, ich sehe ihn die Gangway hinunterkommen. Mächtig sieht er aus und braun gebrannt. Fest nimmt er Mutter in den Arm und hebt Cordel mit leichter Hand über den Kopf. Groß sei sie geworden, findet er, was ich so nicht bestätigen kann. Er legt eine Riesenhand auf meinen Kopf, wuschelt mir den kahlen Schädel und sagt etwas von Sohnemann. Er hat nur eine Tasche dabei, die, wie wir aus Erfahrung wissen, Geschenke enthält. Der Rest des Gepäcks wird nachgeschickt. Wir sind beim Auto, er möchte fahren. Er sei zu müde, findet Mutter. Nein, nein, das gehe schon, sagt er. Fährt los und droht augenblicklich, am Steuer einzuschlafen. Er solle sie doch fahren lassen, bittet Mutter. Er gibt endlich nach, auf dem nächsten Parkplatz werden die Positionen getauscht. Wir kennen das schon, es ist jedes Mal so. Keine Geschichten, keine Abenteuer. Er schläft auf dem Beifahrersitz, sie schaut im Rückspiegel nach uns und legt den Finger an die Lippen. Das Zeichen. Wir sind so leise, wir können schweben, sagt sie. Es gilt bis zum nächsten Morgen. Dann erst ist er wirklich angekommen.

„Na, how's life, Sohnemann?", begrüßt er mich in aufgeräumter Laune. „Gut", sage ich. Mit ihm wird es international. Es gibt „some presents", und wir lassen hören, was wir uns gemerkt hatten: „Je voudrais un paquet de Gauloises sans filtre und für Cordel a colored TV." Was ich bekomme, ist eine Taucheruhr mit 5000 Funktionen und einen kleinen Kassettenrekorder zum Herumtragen. Jahre später sollen solche Geräte unter dem Namen Walkman berühmt werden. Ja, das Leben ist schön, und jetzt kommen die guten Tage.

„Heute hast du mich und mein Portemonnaie für einen ganzen Nachmittag", sagt er, und: „Was sollen wir tun?" Alles wollen wir tun. Zuerst ins Café Fiedler auf Banana Split und Erdbeertorte mit Sahne. Dann nach Hamburg zu Hagenbeck. Um noch einmal alle Geschichten zu hören, die wir schon auswendig kennen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 26. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 26

No. 26Juni / Juli 2001

Von Silke Bielenberg

Silke Bielenberg, Jahrgang 1957, lebt und arbeitet als freie Autorin in Hamburg. Dies ist ihr erster Beitrag für mare. Ihre Geschichte zeichnet die Erinnerungen von sieben Seemannskindern auf. Dank für die vielen Gespräche nach Kiel, Hamburg und Bremen. Wir danken der Familie Rückwardt für die Bilder aus ihren Fotoalben

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Vita Silke Bielenberg, Jahrgang 1957, lebt und arbeitet als freie Autorin in Hamburg. Dies ist ihr erster Beitrag für mare. Ihre Geschichte zeichnet die Erinnerungen von sieben Seemannskindern auf. Dank für die vielen Gespräche nach Kiel, Hamburg und Bremen. Wir danken der Familie Rückwardt für die Bilder aus ihren Fotoalben
Person Von Silke Bielenberg
Vita Silke Bielenberg, Jahrgang 1957, lebt und arbeitet als freie Autorin in Hamburg. Dies ist ihr erster Beitrag für mare. Ihre Geschichte zeichnet die Erinnerungen von sieben Seemannskindern auf. Dank für die vielen Gespräche nach Kiel, Hamburg und Bremen. Wir danken der Familie Rückwardt für die Bilder aus ihren Fotoalben
Person Von Silke Bielenberg