Ein Ozean aus Blut

Aus Reet mach Rot. Aus Blau mach Christi Blut. Die Kirche war’s, die dem Meer seinen Anstrich gab

Tief taucht der Benediktinermönch seinen Pinsel in das schillernd rote Farbpigment. Er lächelt zufrieden. Damit arbeitet er für sein Leben gern. Bisher hat er bereits mit schwarzen Linien ein paar Soldaten in gekrümmter Haltung gezeichnet. Nun fährt er mit seinem zinnoberroten Pinsel über die Heeresangehörigen. Eine rote Wellenlinie nach der anderen entsteht. Schön geschlängelt, damit auch jeder sieht, dass es Wasser ist. Künstlerisch nicht allzu wertvoll, gesteht er sich selbst ein. Doch bei der "Armenbibel", an der er arbeitet, kommt es darauf auch nicht an. Für "Arme im Geiste" soll er die biblischen Geschichten illustrieren. Und bei dieser Darstellung wird jeder sofort erkennen, worum es geht: um den Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer.

Im Mittelalter haben die Menschen beim Stichwort Rotes Meer vor allem ein Bild im Kopf: gebirgshohe, rote Ozeanmauern, zwischen denen das israelitische Volk trockenen Fußes ans andere Ufer wandelt, bevor ihre ägyptischen Verfolger in den zusammenstürzenden Fluten ertrinken. Im damaligen Bewusstsein ist das Wasser des Roten Meeres rot. Das tatsächliche blaugrüne Gewässer ist weit weg. Seit dem Ende der römischen Kolonialzeit befahren die Europäer es nicht mehr. So kann das weitgehend unbekannte Meer ein Eigenleben annehmen, das ganz auf seinem Namen beruht. "Was ist schon ein Name?", wird Shakespeare in späterer Zeit seine Julia fragen lassen. "Das Ding, das wir eine Rose nennen, würde unter jedem anderen Namen ebenso lieblich duften." Beim Namen Rotes Meer verhält es sich anders. Im Mittelalter ist der Namen dieses Gewässers alles - der Ozean, den er bezeichnet, nichts.

Rotes Meer - einem Begriff mit solch einem reichen Schatz möglicher Assoziationen konnte das christliche Mittelalter mit seinem Faible für Symbolik nicht lange widerstehen. Gleich zu Beginn der Epoche macht sich der Kirchenvater Augustinus darüber her. "Die Ägypter verfolgen die Israeliten bis zum Roten Meere. Was aber soll das heißen - bis zum Roten Meere? Bis zur Quelle Christi, die mit seinem Blute geweiht ist. Was nämlich rot ist, leuchtet rötlich." Den Namen Rotes Meer nutzt Augustinus, um den Durchzug mit der christlichen Taufe gleichzusetzen. Dabei kommt ihm zupass, dass die frühen Christen zur Taufe in ein großes Taufbecken hineingingen und am anderen Ende wieder herausstiegen - wie bei einer Wasserdurchquerung. "Mit der Lanze durchbohrt ist die Seite Christi, und es floss daraus unser Lösepreis. Darum wird mit dem Zeichen Christi die Taufe gesegnet, und damit das Wasser, mit dem ihr getauft werdet und durch das ihr wie durch das Rote Meer hindurchgeht."

Als der Benediktinermönch in den Voralpen seine "Armenbibel" fertigt, hatte diese Symbolik schon fast 1000 Jahre Zeit, sich in den Köpfen zu verankern. Wie selbstverständlich stellt der Mönch neben dem Durchzug durch das Rote Meer die Taufe Christi dar. Und ebenso selbstverständlich zeichnet er das Rote Meer rot. Die meisten seiner Bibelillustrationskollegen machen es ebenso.

Der eigentliche Urheber dieser symbolischen Aufheizung und großflächigen roten Einfärbung eines ganzen Ozeans war im Grunde nicht Augustinus, auch nicht andere christliche Gelehrte, die in dieselbe Kerbe schlugen. Der eigentliche Urheber ist unter den Übersetzern der Septuaginta zu suchen. Diese auf Griechisch abgefasste Bibel war im Mittelalter maßgeblich. Und dort heißt es, dass die Israeliten durch das Rote Meer zogen. Im hebräischen Original dagegen steht "Schilfmeer". Das klingt nicht sehr beeindruckend: weder allzu tief noch allzu groß. Keine sehr imposante Kulisse für eine göttliche Machtdemonstration.

Allerdings kommt der Begriff "Schilfmeer" der Wahrheit näher. Archäologische, biblische und historische Forschungen haben die tatsächliche Begebenheit zu Tage gefördert, die der Durchzugserzählung zu Grunde liegt. Sie nimmt sich recht unspektakulär aus.

Sie hat sich nicht am Roten Meer abgespielt, sondern im mit Schilf bewachsenen Gebiet der heutigen Bitterseen am Westrand des Sinai, wie der Mainzer Theologe und Biblische Archäologe Wolfgang Zwickel erzählt. Im 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung plagen sich israelitische Nomaden auf einer pharaonischen Baustelle. Eines Tages halten sie die Fronarbeit nicht mehr aus. 50 von ihnen - nicht das ganze israelitische Volk, wie die Bibel berichtet - fliehen Richtung Grenze. Eine kleine Einheit des ägyptischen Streitheeres - keine ganze Armee - stellt ihnen nach.

An den heutigen Bitterseen geraten die Flüchtigen in die Bredouille. Vor ihnen tut sich ein See auf. Die ägyptischen Soldaten mit ihren Pferden und Wagen sind ihnen dicht auf den Fersen. Die Verfolgten können weder vor noch zurück. Da erhebt sich ein kräftiger Ostwind und bläst das etwa ein Meter tiefe Wasser zur Seite. Die Israeliten stapfen keuchend durch den Morast ans andere Ufer. Die heranpreschenden ägyptischen Soldaten bleiben mit ihren Pferden und schweren Wagen im Schlamm stecken und müssen die Verfolgung aufgeben. Gestorben sind sie nicht.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 40. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 40

No. 40Oktober / November 2003

Von Katharina Kramer

Katharina Kramer ist freie Journalistin in Hamburg und spezialisiert auf wissenschaftliche Themen. In mare No. 35 schrieb sie über die Meere des Mondes.

Mehr Informationen
Vita Katharina Kramer ist freie Journalistin in Hamburg und spezialisiert auf wissenschaftliche Themen. In mare No. 35 schrieb sie über die Meere des Mondes.
Person Von Katharina Kramer
Vita Katharina Kramer ist freie Journalistin in Hamburg und spezialisiert auf wissenschaftliche Themen. In mare No. 35 schrieb sie über die Meere des Mondes.
Person Von Katharina Kramer